Digital und direkt: Wie wir aus unserer Demokratie mehr machen können

„Danke, Merkel“ oder doch nicht? Die Pandemie forderte Entschlossenheit von der Regierung, aber nach den akuten ersten Lockdown-Tagen machte sich viel Unmut breit – denn es ging um viel für Viele. Mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung auf Bundesebene kann den Protest in konstruktive Dialoge verwandeln, digitale Tools beim drängenden Update für die Demokratie helfen.

Ein Protestschild, auf dem "We demand democracy" steht, wird hochgehalten.

Schon wieder „Neuland”: So beschreibt Wolfgang Schäuble den überraschenden Schritt des Bundestags vom 18. Juni 2020, erstmals einen Bürgerrat einzuführen. 160 per Los ausgewählte Bürger:innen sollen an drei Wochenenden diskutieren und Handlungsempfehlungen für das Parlament erstellen. Das auf den ersten Blick etwas schwammige Thema: „Deutschlands Rolle in der Welt”.

Die Nachbarn aus Frankreich sind da bereits weiter: Eingeführt als Reaktion auf die Gelbwesten-Proteste präsentierte der dortige Klima-Bürgerrat am 21. Juni seine Ergebnisse. Und die haben es in sich: Klimaschutz in Artikel 1 der Verfassung verankern, “Ökozid” als Straftatbestand einführen, Tempolimit von 110 km/h auf Autobahnen – Ende Juli will sich Macron zu den Ratschlägen äußern. 

Mehr Bürgerbeteiligung wagen (oder doch nicht?)

Solche Formate der Bürgerbeteiligung fordert Ralf-Uwe Beck, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V., seit Jahren. Und diesen jüngsten Erfolg kann sich sein Verein auf die Fahnen schreiben, denn der Bundestags-Entscheidung als Vorbild voraus ging der “Bürgerrat Demokratie” (in Partnerschaft mit den Stiftungen Schöpflin und Mercator). Als Dipl.-Theologe braucht Beck einen festen Glauben und den langen Atem für direkte Demokratie, denn: „Rund ein Dutzend Anträge für den bundesweiten Volksentscheid wurden bereits ins Parlament eingebracht – doch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt Deutschland das einzige EU-Land, das noch nie eine nationale Abstimmung abseits von Wahlen durchgeführt hat“, erklärt er.

Für diesen Stillstand gibt es spätestens seit dem Brexit gute Gründe: Populisten wiegeln gerade im Web mit “Dark Campaigns” auf und zerstören die Hoffnung auf sachliche Debatten und kluge Entscheidungen. Doch gerade in Krisen wie der Pandemie, wo es um existenzielle Bedürfnisse vieler Bevölkerungsgruppen geht, braucht es bessere, koordinierte Zugänge zur Politik, damit Betroffene gehört werden – und nicht die lauteste Lobby gewinnt.


Welche Formen von Demokratie gibt es?

Repräsentative Demokratie
Abgeordnete werden gewählt und entscheiden fortan nach eigenem Gewissen im Parlament.

Deliberative Demokratie
Öffentliche Beratungen sind gewünscht, Bürger:innen werden an der Entscheidung beteiligt. Vision ist der “machtfreie Diskurs” und sachliche Konsens.

Direkte Demokratie
Hier stimmt das Volk. Das Parlament gibt bestimmte Themen frei zur Abstimmung und hält sich (im Idealfall) daran. Ein Volksbegehren kann angenommen oder abgelehnt werden, daraufhin kann der Volksentscheid erzwungen werden.


Mehr als Mandate

„Im Krisenmodus war die Regierung einerseits aufgerufen, schnell und entschlossen zu handeln – andererseits müssen wir natürlich dafür sorgen, dass Entscheidungen transparent und nachvollziehbar sind“, erklärt Helge Lindh, Mitglied des Bundestags der SPD aus Wuppertal und Fraktionssprecher für Demokratie.

Warum Baumärkte aufmachten und Schulen geschlossen blieben, wieso Künstler leer ausgingen und die Lufthansa ohne Auflagen Milliarden bekam – all das waren schwerwiegende Entscheidungen, über die engagierte Menschen gerne mehr mitbestimmt hätten. Das zeigte sich beim Andrang auf das einzige Tool, über das Bürgermeinungen zurzeit offiziell ins Parlament gelangen – die E-Petition. Jedoch: „Der Petitionsausschuss ist zurzeit ordentlich überlastet und kommt mit den Themen, die das Quorum erreicht haben, nicht hinterher“, erklärt Lindh. Es bräuchte also längst mehr Zugänge, die niedrigschwellig, möglichst verbindlich und zeitnah auch zu politischen Entscheidungen führen.

Digital gestützte Erfolgsbeispiele

Das funktioniert auf regionaler Ebene oft bereits erstaunlich gut. Zum Beispiel in Ulm – auch dank digitaler Tools. Die Stadt wird vom Bund als “Modellprojekt Smart Cities” gefördert und ruft Bürger:innen über eine Web-Plattform auf „tragfähige Konzepte des digitalen Lebens” für bessere Bildung, Mobilität, Gesundheit und Verwaltung vorzuschlagen. Die Digitalisierung wird proaktiv begriffen – zum Beispiel in Bezug auf den Wandel der ansässigen Automobilindustrie hin zu einer ressourcenschonenden Circular-Economy, über die Bürger:innen auch offline in Planspielen und Zukunftslaboren mitdenken dürfen. 

Doch es geht auch größer: Zum Beispiel wenn eine Megakrise wie Corona neue, unbekannte Wege der digitalen Bürgerbeteiligung erzwingt. Der #WirvsVirus Hackathon (20. – 22. März 2020) brachte über 28.000 Freiwillige unter Schirmherrschaft des Kanzleramts und Federführung von sieben digitalkompetenten Initiativen zusammen. Über 1.500 Ideen wurden eingebracht, 130 davon weiterentwickelt durch Coaching und teils finanzielle Förderung. Die Organisation: Ehrenamtlich. Die Kosten: 2,5 Millionen Euro. Ein Schnäppchen in Anbetracht des Outputs und der seltenen und wertvollen Erfahrung von gelebter Zusammenarbeit zwischen kreativen Bürger:innen und Bundesregierung. 

„Maßgeblich für die Begeisterung der Teilnehmer:innen war natürlich die Dringlichkeit des Themas und dass jede:r mit ihren oder seinen Fähigkeiten willkommen war“, erläutert Adriana Groh, Leiterin des Prototype Fund und eine der Mit-Organisatorinnen. „Making Participation Work“, Teilhabe möglich machen, lautete ihre Abschlussarbeit an der Universität Maastricht, außerdem entwickelt sie (digitale) Beteiligungsprozesse etwa für das Tempelhof-Areal in Berlin. Das seltene Zusammenspiel zwischen Regierung und Innovativen nennt sie „radikale Kooperation“ – wenn Insider des Systems mit Outsidern für Systemwandel als Allianz zusammen wirken.

Quellen: Mehr Demokratie e.V. / Prototype Fund / SPD-Fraktion

Plan mit Risiko

Warum die Menschen dann nicht auch direkt an politisch schwerwiegenden Entscheidungen beteiligen anstatt „nur“ kreative Notfall-Lösungen anzuzapfen?

„Zum einen besteht die Gefahr, dass sich doch nur wieder die bereits Engagierten beteiligen – sich also auch bei neuen, offenen Formaten mehrheitlich mobilisieren und Gehör verschaffen“, sagt Groh. „Politische Bürgerbeteiligung braucht also sehr gezielt Zugänge für alle Bevölkerungsgruppen und sollte immer digital als auch analog angeboten werden“. Enttäuschung ist außerdem vorprogrammiert, wenn Teilhabe nur suggeriert wird und Ergebnisse nicht ausreichend für die letztliche Entscheidung berücksichtigt werden. Oder wenn ein Dialog zu offen gestaltet ist, als dass dabei konkrete Handlungsoptionen für Parlamentarier herauskommen. Klar, das Neue hat es schwer und manche Vorbehalte sind berechtigt – doch eigentlich hatte die Regierung bereits einen Plan, um genau das besser auszuleuchten.

Eine „Expertenkommission zur Demokratiereform“ ist im Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot festgelegt. Doch wann sie endlich kommt bleibt offen – „noch in dieser Legislatur“ versprach jüngst Thorsten Frei, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. Der schleppende Fortschritt hängt offenbar auch mit der Angst zusammen, dass Populisten direkte Demokratie für sich nutzen – denn auch die AfD ist Fürsprecher für mehr Mitbestimmung der Bürger:innen. „Viele fürchten, dass neue Elemente direkter Demokratie die etablierte repräsentative Demokratie schwächen“, erklärt Helge Lindh. „Dieses Risiko sollten wir aber auf uns nehmen: Entweder Demokratie modernisiert sich unter dem aktuellen Druck oder sie wird von ihren Feinden gekapert und abgebaut. Ich wünsche mir eine Zukunft, in der wir nicht nur gegen Extremismus und verrohte Sprache ankämpfen, sondern wieder dahin kommen, das sich die demokratische Debatte erneuert und verbessert – und so neues Vertrauen von Bürger:innen entsteht“.

Mehr miteinander reden, um weniger schreien zu müssen: Gründe und erfolgreiche Beispiele für mehr Bürgerbeteiligung in der Politik gibt es genug. Wenn Teilnehmer:innen gut beraten und/oder als Expert:innen ihrer eigenen Lebenswelt gefragt werden, können derlei Prozesse als Prävention gegen Verdrossenheit und Populismus wirken. Die Einführung des ersten offiziellen Bürgerrats für Deutschland ist ein Anfang. Und digitale Tools wie adhocracy+ machen es auch in Corona-Zeiten möglich, komplexe Debatten und Umfragen digital abzubilden. 

Für Ralf-Uwe Beck ist der neu beschlossene Bürgerrat ein Etappensieg, aber längst nicht das Ziel. Direkte, verbindliche Demokratie, mit der sich die Bürger:innen notfalls vom Regierungshandeln unabhängig machen und selbst entscheiden, sind für ihn das wahre „Frustschutzmittel“. Damit sich viel mehr Menschen für Politik nicht nur wieder erwärmen, sondern sie selbst mitgestalten können.

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