Was ist so besonders an Wikipedia? Aus meiner Sicht gibt es zwei Antworten auf die Frage. Erstens: Was Wikipedia den Usern anbietet. Nie in der Geschichte der Menschheit wurden annähernd so viele Informationen an einem Ort gesammelt, systematisch sortiert und zugänglich bereitgestellt. Zweitens: Wie Wikipedia funktioniert. Zwar gibt es ein Team, das die Webseite technisch betreut, jedoch werden die Inhalte, die Wikipedia ja schließlich ausmachen, überwiegend nicht von Angestellten, sondern freiwilligen Autor:innen eingetragen, ergänzt und aktualisiert. Dieser Prozess wird durch ein großes und relativ unhierarchisches Netzwerk von freiwilligen Administrator:innen (aktuell 191 für die deutschsprachige Version) geregelt und kontrolliert.
Wir kennen Wikipedia jetzt lange genug, dass wir den wunderlichen Aspekt dahinter gerne vergessen: So entfernt ist diese Mischung aus Ehrenamt und Selbstorganisation von der dominanten Logik der Marktwirtschaft. Es wäre fast undenkbar – wenn es das nicht in Wirklichkeit schon gäbe. In den Worten des Juraprofessors Jonathan Zittrain: “Wikipedia funktioniert wirklich gut in der Praxis – nur in der Theorie nicht”.
Wikipedia ist jedoch nur das bekannteste Beispiel für ein größeres Phänomen. Denn inzwischen gibt es viele erfolgreiche IT-Dienste, die nicht von einem herkömmlichen Unternehmen, sondern von einer dezentralisierten und meist freiwilligen Community mit offenem Quellcode (Open Source) gebaut und gepflegt werden – und solche Initiativen werden immer zentraler in unserer digitalen Gesellschaft.
Lösungen auf unterschiedlichen Ebenen
Auf Open Source basierende Community Software ist oft nicht besonders sichtbar, weil sie in der Regel nicht direkt von den Endnutzer:innen bedient wird. Häufiger dient sie stattdessen als wichtiger Baustein und wird so als Teil von einem digitalen Produkt aufgenommen und eingebaut. Man kann da von unterschiedlichen technologischen Ebenen sprechen.
Die amerikanische Autorin Nadia Eghbal nahm 2016 in ihrer wichtigen Studie Roads and Bridges die Programmiersprache Python als Beispiel. Diese wird nicht zentral entwickelt, sondern von einer globalen Community von Entwickler:innen ständig vorangetrieben und vertieft. In ihrer Anwendung dient die Programmiersprache dann schlussendlich als Fundament, als technischer Boden, für zahllose andere Software-Produkte.
Diese müssen nicht zwangsläufig komplette Endprodukte wie Wikipedia sein, sondern können sich auch in Gestalt von Modulen, die für diverse Anwendungen geeignet sind, präsentieren. Ein stellvertretendes Beispiel dafür ist OpenStreetMap, eine Kartierungssoftware und Google Maps-Alternative. Sie kommt ursprünglich aus Großbritannien, wird mittlerweile jedoch durch eine aktive, freiwillige und internationale Community unentgeltlich gepflegt und auf dem neuesten Stand gehalten.
In unserem jüngst erschienenen Papier “Gute Software für soziale Teilhabe” stellen wir uns die Frage, welche Form von Software es braucht, damit gesellschaftliche Teilhabe durch die Digitalisierung nicht verletzt oder eingeschränkt, sondern geschützt oder sogar vertieft wird. Dabei beleuchten wir auch verschiedene Open Source-Beispiele näher. Das ganze Papier könnt ihr hier lesen.
Nicht-finanzielle Motivationsquellen
Die Frage, die sich stellt: Was treibt die Mitglieder solcher Software-Communities ins Engagement – wenn es doch nicht die finanziellen Anreize sind?
- Zum Teil hat es mit ideologischer Überzeugung zu tun. So halten es viele für wichtig, dass eine datenethische Alternative zu Google Maps existiert, die nicht kommerziell ausgerichtet ist und einen entsprechend anderen Umgang mit Nutzerdaten und Werbung hat.
- Bei vielen ist die Motivation aber simpler: Es macht ihnen Freude und Spaß, Dinge zu bauen, die dann von Anderen genutzt werden. Manche nutzen Open Source-Initiativen als eine Art Weiterbildungsumfeld, um sich neue Technologien anzueignen und neue Ansätze auszuprobieren.
- Außerdem ist die soziale Dimension wichtig: Die wertschätzende Anerkennung ihres Arbeitsbeitrags durch den Rest der Community kann viel größer wiegen als finanzielle Entschädigungen.
Wenn Community-Projekte systemisch wichtig werden
Kommen wir zurück zu Python. Mittlerweile ist Python die zweitbeliebteste Sprache unter Entwickler:innen, gehört zu den fünf meistgenutztesten Programmiersprachen weltweit und wird unter anderem von Google, der NASA und auch – ja – Wikipedia eingesetzt.
Der Titel von Nadia Eghbals Studie “Roads and Bridges” weist auf ihre zentrale These hin: Viele Open-Source-Initiativen, die teilweise als Nebenprojekte oder sogar Freizeitbeschäftigung begannen, sind inzwischen für viele digitale Strukturen im öffentlichen sowie privatwirtschaftlichen Bereich systemisch wichtig – und damit auch für unsere Gesellschaft an sich. Eghbal redet deswegen von digitaler Infrastruktur.
Infrastruktur ist für die Allgemeinheit und das gesellschaftliche Zusammenleben zentral. Wenn sie scheitert, ist das für uns alle ein Problem. Deswegen hat bei physischer Infrastruktur – Straßen oder dem Telefonnetzwerk zum Beispiel – die Regierung die Verantwortlichkeit, die Versorgung und Instandhaltung zu sichern. Die digitale Infrastruktur, von der wir hier reden, funktioniert aber anders. Da ist keine Top-Down-Steuerung möglich. Dies wäre auch nicht wünschenswert, da Open Source-Software erst dadurch so erfolgreich und leistungsstark geworden ist, weil die agilen und selbstorganisierenden Strukturen, die dahinter stehen, Engagement, Innovation und Leidenschaft ermöglichen und befördern.
Dieser Effekt lässt sich am Beispiel von stadtnavi, einer deutschen Open Source-Navigationsapp verdeutlichen. Die Initiative der Stadt Herrenberg baut auf der Arbeit von gleich zwei OpenSource-Communities auf: So setzt sie die Routenplanungs-Software Digitransit ein, die wiederum auf OpenStreetMap fußt. Ansgar Engbert, der Projektleiter von stadtnavi hält fest, dass der App-Launch im Mai diesen Jahres für Begeisterung in beiden Communities sorgte. Die recht internationale Community hinter Digitransit freute sich über die neue Anwendung der Software und unterstützte die Umsetzung ehrenamtlich – gleichzeitig sehen die Entwickler von OpenStreetMap vor Ort in Herrenberg, wie ihre Arbeit zu einer besseren Routenplanung für alle Nutzer:innen der neuen App führt.
Auf Dauer kann es schwieriger werden
Aber es kann auch anders kommen. So neigen ehrenamtlich-getragene Open Source-Projekte teilweise dazu einzuschlafen, insbesondere wenn die Technologie nicht mehr als besonders “sexy” gilt. Das kann zu grundsätzlichen Problemen führen: Denn wenn die Software noch von anderen digitalen Angeboten genutzt wird, kann das Nicht-Weiterpflegen Qualitätsprobleme oder sogar Sicherheitsrisiken bei den Endabnehmer-Apps und -Programmen provozieren.
Nadia Eghbal führt dies am Beispiel von OpenSSL aus. Dieses Toolkit für Verschlüsselung im Netz begann 1998 als Open Source-Projekt und wurde bis 2014 in zwei Drittel aller Webserver weltweit benutzt. Dennoch bestand zu dem Zeitpunkt das Team dahinter nur aus einem Vollzeit-Entwickler – und einer Handvoll Freiwilligen. Als der fatale “Heartbleed Bug” 2014 entdeckt wurde, war die Überraschung nicht, dass OpenSSL eine Schwachstelle hatte, sondern eher, dass so etwas nicht früher vorkam.
Förderung anders denken
Digitale Infrastrukturprojekte, die von freiwilligen Communities vorangetrieben werden, spielen heute schon eine wesentliche Rolle in der digitalen Welt. Und das soll auch so bleiben, sind sie doch als Alternative und Gegengewicht zu kommerziellen Angeboten, deren Umgang mit persönlichen Daten in den meisten Fällen bedenklich ist, unverzichtbar.
Natürlich ist Wertschätzung gegenüber den unentgeltlich arbeitenden Entwickler:innen schön, damit die unbezahlten Arbeitsstunden zumindest nicht unsichtbar sind. Ich hoffe, dieser Artikel ist ein kleiner Beitrag dazu.
Gleichzeitig brauchen viele Projekte jedoch auch finanzielle Unterstützung, um den Mehrwert ihres Angebotes auch nachhaltig gestalten zu können. Hierzu braucht es das Umdenken und die Offenheit auf Fördererseite auch Software-Projekte zu finanzieren, deren Arbeit und Wirkung auf den ersten Blick etwas abstrakt klingen mag.
Durch Vertrauen und Vision geht in der Paxis dann vielleicht doch mehr, als es die Theorie vermuten lässt.
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