Für Reisende ist zweitrangig, wie tief ein Graben, wie reißend ein Fluss ist, solange eine breite, stabile Brücke darüber führt. Für einen großen Teil von uns Bürger:innen ist das so mit dem alltäglichen Zugang zu öffentlichen Diensten, Mobilität, Kultur und Bildung. Doch die COVID19-bedingten Kontaktbeschränkungen haben erlebbar gemacht, wie das ist: Barrieren erleben. Ins Büro, auf die Behörde, zur Schule gehen war plötzlich nicht mehr selbstverständlich – die Brücke war abgebrochen.
Gott sei Dank stand daneben eine zweite Brücke. Wackeliger, schmaler, mitten im Bau: digitale Technologie ermöglicht seit vielen Jahren und in zunehmendem Maß den Zugang zu zentralen Elementen gesellschaftlicher Versorgung und Teilhabe. Vor Corona haben vor allem Abenteuerlustige und Neugierige diese zweite Brücke gewählt, für Telemedizin, digitale Bürger:innenbeteiligung und das virtuelle Klassenzimmer – als Alternativen zum Standard. Da schien es nicht so wichtig, wie sicher, wie erreichbar diese Nebenkonstruktion aufgebaut war. Schließlich hatten wir die Wahl.
Mit Corona wurde digitale Technologie in Wochenfrist unsere Hauptverbindungstrasse. Das wäre nicht möglich gewesen, hätte diese Zweitbrücke nicht schon gestanden. Mit der Krise wurde deutlich, wie sehr unser Lernen, unser Arbeiten, unser Miteinander mit der Digitalisierung verschränkt sind, auch unabhängig von der Krise. Die Pandemie hat der laufenden Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens schlicht einen Turbo verpasst.
Eine sichere Brücke bauen
Dieser in den vergangenen Monaten bundesweit erlebte Wechsel auf den digitalen Kanal lässt eine Frage laut werden, die bisher im öffentlichen Raum über den Flüsterton nicht hinausgekommen ist: Wenn digital die Brücke für gesellschaftliche Teilhabe schlägt, sollten wir uns nicht sehr genau ansehen, aus welchen Bausteinen diese Brücke besteht? Wie zweckmäßig, sicher und widerstandsfähig sind digitale Infrastruktur und Softwareanwendungen?
Es ist wie die Geschichte mit dem Frosch im heißen Wasser: Die Entwicklung im Zeitraffer lässt greifbarer werden, dass digitale Interaktion sich in ihrer Bedeutung und Wertigkeit im gesellschaftlichen Zusammenhang wandelt. Es wird spürbarer, was in stetig zunehmendem Maß schon vor Corona galt: ein stabiler Internetzugang, eine leistungsfähige Ausrüstung mit IT-Hardware und ein kompetenter Zugang zu Softwareanwendungen haben wesentlichen Einfluss auf den persönlichen und organisatorischen Handlungsspielraum und ganz allgemein gesprochen auf die Teilhabe an Gesellschaft und wirtschaftlichem Handeln.
Wenn ohne Internetzugang keine gleichwertige Teilnahme am Schulunterricht, ohne Chat-App keine Behörden-Interaktion, ohne Videokonferenz keine verlässliche psychosoziale Versorgung möglich ist – und sei es nur für die kurze Phase einer Krisenbewältigung, dann müssen Staat und Gesellschaft anders über die Qualität der verfügbaren Lösungen nachdenken. Dann kann die Versorgung der Bürger:innen nicht allein dem Markt überlassen werden. Dann rücken digitale Infrastruktur und digitale Anwendungen in eine Liga mit Beförderungswesen, Elektrizitätsversorgung, Bibliotheken und Friedhöfen: sie wandeln sich vom Wirtschaftsgut zum Teil der Daseinsvorsorge.
Der Markt allein wirds nicht richten
Während politisch über die flächendeckende Versorgung mit Breitbandinternet oder die Hardware-Ausstattung von Schulen zumindest diskutiert wird, hat hinsichtlich der verfügbaren Anwendungen bisher weitgehend Zufriedenheit den Ton angegeben: wir haben sie doch, die unzähligen Programme und Apps, für jede Nutzungsmöglichkeit, in hübschem Design und immer besserer Nutzer:innenfreundlichkeit. Doch diese gefühlte Vielfalt täuscht über einen zentralen Mangel hinweg: Die erfolgreichen Softwareangebote gerade in den Teilhabe-relevanten Themenfeldern Kommunikation und Arbeitsorganisation werden weitgehend nicht den nötigen Standards an Datenschutz, Inklusion und Transparenz gerecht.
Das ist schon für individuelle Nutzer:innen schade, aber soweit ok, wie Wahlfreiheit besteht: Nutze ich Whatsapp oder Signal, oder gar nichts von alldem? Strukturell problematisch wird diese Angebotslandschaft, wenn sie die Tür ist, durch die ich gehen muss, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Was wenn Schulen und Hochschulen, öffentliche Verwaltung, Hausärzt:innen und Vereine mit ihren Engagierten, Patient:innen, jungen Menschen auf dem Bildungsweg, schlicht allen Bürger:innen digital in Austausch gehen? Wenn die Nutzung dieser Anwendung oder jener App nicht mehr persönliche Konsumentscheidung, sondern von zentraler Stelle vorgeschrieben ist, dann führt an Datenschutz, Datennutzungstransparenz und inklusiver Produktgestaltung kein Weg vorbei.
Wir brauchen sie: Public Interest Software
Nun sind die sichtbarsten Softwareanwendungen Kinder des Marktes. Ihre Gestaltung orientiert sich danach, wie Nutzer:innen gewonnen und gehalten werden können, und an der Umsatzoptimierung. Sinnhaft für ein Digitalunternehmen, das sich in Konkurrenz behaupten oder den Startup-Exit sichern will. Zu kurz gegriffen, wenn es um öffentliche Güter und teilhaberelevante Infrastruktur geht. Dann müssen auch Gemeinwohl, Inklusivität und individuelle Schutzrechte auf die Liste der Designkriterien.
Und es gibt sie, die Alternativen, die sich mehr am gesellschaftlichen Nutzen denn am Markt ausrichten. Anwendungen, die Nutzer:innendaten so sparsam wie möglich nutzen und niemals als Teil des Geschäftsmodell weitergeben. Trägerorganisationen, die als Nonprofits operieren. Coding-Communities, für die die Entwicklung der Anwendung gesellschaftliches Engagement ist. Produkte, deren Code offen und deren Innenleben damit nachvollzieh- und bewertbar ist.
Mit Corona haben die Videokonferenzsysteme BigBlueButton und Jitsi, die Beteiligungslösung adhocracy+ oder die Plattformen nebenan.de und betterplace.org zurecht gewonnen. Sie haben wichtige Dienste bereitgestellt, um die Krise gesellschaftlich zu bewältigen. Im besten Fall sind öffentliche Hand und die Träger gemeinwohlorientierter Software darüber in langfristige Zusammenarbeit gekommen, wie bei Moodle, die nun die offizielle digitale Lernumgebung für nordrhein-westfälische Schüler:innen stellen.
Jetzt umdenken und eine gemeinwohlorientierte Digitallandschaft stützen
Nur ist die Landschaft ein Flickenteppich: Public Interest Software, als wesentlicher Teil von Public Interest Technology, wird als neue Facette von zivilgesellschaftlichem Engagement und Sozialunternehmertum angesehen. Was keine Stiftung überzeugen kann, sich am Markt nicht vollständig refinanziert, muss eben wieder gehen. Wie soll das gehen, in einem risikokapital-finanzierten Konkurrenzmarkt, der sich vielfach aus der Datenverwertung heraus trägt? Vielversprechende Entwicklungen kommen so über das Prototypen-Stadium nicht hinaus. Erprobte, wirksame Programme können nach auslaufender Modellprojekt-Förderung nicht skalieren.
Dass das zu kurz greift, darauf machen derzeit unisono die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern, Bildungsinstitutionen und -anbieter und die Digitale Zivilgesellschaft aufmerksam, und spiegeln damit die digitalpolitischen Forderungen des III. Engagementberichts der Bundesregierung: gemeinwohlorientierte Software ist notwendig, nicht weil sie als nerdiges Engagementfeld Freude macht, sondern weil wir sie als Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur brauchen.
Tun lässt sich vieles, um diesen essentiellen Bereich der digitalen Angebotsseite zu entwickeln: Gemeinwohlfaktoren wie Datensparsamkeit, Dateninteroperabilität oder offener Code lassen sich in öffentlichen Ausschreibungen als Anforderung definieren. Unterschiedliche Förderprogramme können sich aufeinander beziehen und so die gesamte Entwicklungskette unterstützen, vom Innovationsprogramm (Wer liebt ihn nicht, den Prototype Fund?) bis zur Skalierung. Und was sich bewährt und für gesellschaftliche Teilhabe tragende Funktion entwickelt, braucht dauerhafte strukturelle Stützen: Strukturförderung, öffentliche Beteiligung oder Zuschussverfahren – es lohnt sich, neu und breit zu denken.
Mit der D3 API wollen wir die aktuelle Aufmerksamkeit auf diese wichtige infrastrukturelle Frage wachhalten. In den kommenden Monaten beleuchten wir gelungene Startpunkte öffentlich-zivilgesellschaftlicher Partnerschaft fürs Bereitstellen guter digitaler Anwendungen.
Wir verstärken die Netzwerke, die gerade erst anfangen, zwischen Verwaltung, Datenschutz, öffentlicher IT und Public Interest Tech Community zu wachsen. Und wir entwickeln mit Erfahrungsträger:innen, Mitdenker:innen und Schlüsselpersonen Impulse zur Frage, wie sich das Feld der Public Interest Software in Deutschland entwickeln und stützen lässt.
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