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Die sozialen Auswirkungen der Digitalisierung sind immens. […] Das Digitale in den Dienst der Gesellschaft zu stellen ist ein großer Gestaltungsauftrag unserer Zeit. [Dazu] braucht es dringend auch die Stimmen der Zivilgesellschaft. Sie müssen deutlich hörbar sein, vielfältig und sachkundig.
Digitalisierung braucht Zivilgesellschaft, S. 2.
Der Chaos Computer Club (CCC) ist seit über 30 Jahren eine gewichtige zivilgesellschaftliche Stimme zu diesen Themen. Ehrenamtlich bringen sich die Aktiven des CCC seit über 30 Jahren in netzpolitische Debatten ein, um sich gemäß ihrer Satzung „mit den Auswirkungen von Technologien auf die Gesellschaft sowie das einzelne Lebewesen“ zu beschäftigen. Ohne Stimmen wie die des CCC und anderer Aktivist:innen wäre die Entwicklung der Digitalisierung dystopischer – denken wir beispielsweise an Diskussionen zu Überwachung, Vorratsdatenspeicherung und mehr.
Kürzlich hat sich der CCC fundiert in die Diskussion um die Entwicklung einer europaweiten Corona-App eingemischt und zehn Prüfsteine für die Bewertung von „Contact-Tracing“ Apps benannt. Allgemein ist es schön, einen lebendigen und breiten, sachkundigen Diskurs im Netz zu finden. Wir haben für euch hineingelesen.
There is an App for that: So sieht es derzeit aus
Viele von uns scharren mit den Hufen (oder werfen ihre über die letzten Wochen angezüchtete Mähnen unruhig hin und her): Wir wollen raus! Wir wollen nicht mehr den engen Beschränkungen der Corona-Krise unterliegen – aber die Gefährdungen trotzdem Ernst nehmen. Lösung verspricht: Eine Corona-App.
Es gibt bereits eine „Datenspende“-App des Robert-Koch-Instituts, die man sich im App-Store herunterladen kann und die vor allem auf Daten von Fitness- und Gesundheitsapps und Devices zurückgreift. Zwei Wochen nach ihrem Launch veröffentlichte der CCC eine ganze Reihe an bedenklichen Schwachstellen.
Andere App-Lösungen sollen anzeigen, wie die Bedarfslage oder Verfügbarkeit von Produkten aktuell ist und dabei Statistik-Fehler bereinigen. Dabei ist der Konzern Palantir Zentrum der Diskussion geworden, insbesondere nachdem sich Hessen für eine Zusammenarbeit entschieden hat. Palantirs Analysesoftware Foundry schafft zwar ein passendes Angebot – mit dem „kleinen“ Knackpunkt, auch für Geheimdienste unter Vertrag zu stehen und jede Menge (Patienten)Daten zu sammeln. Einige kritisch begleitenden Stimmen listet golem.de auf.
PEPP-PT und die App zur Nachverfolgung von Infektionsketten
Im Zentrum der allgemeinen Diskussion aber steht die App, die idealerweise – aber freiwillig – von allen Smartphone-Nutzer:innen eingesetzt werden sollte, um maximal wirksam zu werden. Unter Hochdruck arbeiten viele Wissenschaftler:innen und IT-Profis in der Initiative PEPP-PT in ganz Europa an einer Corona-App, die sowohl Datenaustausch ermöglicht – als auch den Datenschutz Ernst nimmt. Da letzteres gar nicht so einfach ist, haben kürzlich einige namenhafte Mitwirkende ihre Mitwirkung zurückgezogen. Die Sorge vieler Kritiker:innen: Eine App, mit der wir das Coronavirus eindämmen können sollen, könnte am Ende zum Spion auf unserem Smartphone werden. Entscheidend ist dabei unter anderem, ob sich die Gruppe der zentralen oder der dezentralen Speicherung der Kontaktpunkte durchsetzt.
Wenn Infektionsketten besser einzuordnen sind – auch über enge persönliche Kontakte hinaus – dann wäre das doch super, um schnell und zielgenau zu handeln. Oder? Und hat die App nicht auch in Asien geholfen? Die Antwort ist wohl ein entschiedenes Jein. Wir haben einige Schlagworte herausgepickt, die zeigen: Digitalisierung braucht Zivilgesellschaft: Auch und gerade jetzt.
Asien-Argument
Gern wird in puncto Nutzen der App auf Südostasien verwiesen, wo vergleichbare Apps Erfolge erzielt hätten. In Sachen Zivilgesellschaftsdiskurs, Epidemieerfahrung und informationeller Selbstbestimmung wohl kein guter Vergleich.
Länder wie China, Südkorea und Singapur haben zwar bei der Virus-Eindämmung teils große Erfolge erzielt – und Apps eingesetzt. Ob nun aber die App selbst oder allgemein Erfahrungen im Umgang mit Epidemien zu einem passenden Maßnahmenset mit gewünschten Erfolgen geführt haben, lässt sich nicht klar sagen.
Die genutzten Apps sind teils sehr umfassend. Vielfach wird (nicht anonymisiert) getrackt. In Südkorea müssen alle Bewegungsdaten des eigenen Smartphones bei einem Corona-Test an die Behörden übermittelt werden. Im oft als Vorbild genannten Falle Singapurs wird zwar zwar nur getraced (dazu mehr unten), aber die Handynummer mit übermittelt. In Quarantänefall wird via GPS und kurzfristig angeforderten Handyfotos geprüft, wo die Person sich aufhält. Damit können gekoppelt Bewegungsprofile erstellt werden – ein Schritt, der in Deutschland bzw. Europa so wohl kaum durchzusetzen wäre.
Es gibt in China und auch einigen anderen Ländern der Region keine starke, laute Zivilgesellschaft und freie Presse – und in diesem Teufelskreis wird seit Jahren die gesellschaftliche Überwachung mit digitalen Methoden immer engmaschiger. Stichwort: Social Scoring in China! Wer dort schon vorher an den virtuellen Pranger gestellt wurde, weil er bei Rot über die Ampel ging, oder aufgrund ausstehender Zahlungen oder sonstigen Fehlverhaltens nicht mehr Fliegen oder öffentliche Gebäude betreten darf, für den sind auch virtuelle Fußfesseln als Quarantäneüberwachung oder ein unanfechtbares technisch berechnetes Farbschema, das den persönlichen Quarantänestatus verordnet, oder auch das Tracking durch ein enges Netz von Straßenkameras keine große Neuerung.
Was Social Scoring und eine engmaschige Überwachung in China schon jetzt bedeutet und wie Wirtschaft, Polizei und auch Privatpersonen Daten verknüpfen, stellt auch diese ARD-radioReportage vor. Konkrete Corona-Auswüchse des Social Scoring beleuchtet dieser Artikel. Ebenfalls einen spannenden Vergleich zwischen der Digitalisierung in China und Deutschland sowie bietet die Reportage „Neuland. Wer hat die Macht im Internet?„.
Gesundheitssystem vs./feat. App?
Klar, bei D3 beleuchten wir vor allem die Chancen der Digitalisierung. Das das aber nicht bedeutet, alles über Apps zu lösen – und das Digitalisierung eher ein Mindset und eine gesellschaftliche Phase ist, erzählen wir euch im Schlaf. Daher im Folgenden ein kurzer Blick auf die Frage: Warum jetzt eigentlich genau eine App? Auch hierzu hat sich eine breite Diskussion entsponnen.
Menschliches Gedächtnis vs. ungenaue Bluetooth-Messung
Menschliche Erinnerung ist mangelhaft und nicht immer wissen wir, mit wem wir da gerade eng in der Bahn oder an der Supermarktkasse gestanden haben. Eine automatische Speicherung der Bluetooth-Verbindung zu einer anderen Person ist da schon konkreter – aber eben auch ungenauer: Die Messgenauigkeit der bevorzugten Bluetooth-basierten Lösung ist fraglich. Ungenauigkeiten von ca einem Meter sind drin. Das schafft schon bei zwei Personen einen Riesenradius, in dem sie einander erfassen – oder eben nicht. Bluetooth erkennt auch keine dünneren trennenden Scheiben und Wände. Es werden also zu viele potentielle Kontakte erfasst. Meldet nun eine infizierte Person an all diese potentiellen Kontaktpersonen eine Erkrankung, verunsichert das erheblich mehr Menschen, als annähernd realistisch ist – mehr dazu auch im Podcast von Logbuch Netzpolitik.
Daten sammeln vs. Daten sinnvoll aufbereiten
Wer bereits betroffen war – als Infizierte:r oder Kontaktperson – kennt die Telefonate mit dem Gesundheitsamt: Gemeinsam werden tatsächlich relevante Kontakte identifiziert und eine persönliche Beratung und Begleitung findet statt. Leider sind die Stellen aber nach wie vor vielerorts unterbesetzt und die Ausrüstung veraltet – Folge jahrelanger Sparmaßnahmen.
Die Frage wird laut: Könnte das Geld für die App nicht hierein fließen? Das Problem sei nicht, dass nicht zahlreiche Daten vorliegen und über diesen Weg noch stärker erhoben werden könnten – sondern dass sie scheinbar schlecht aufbereitet bzw. verarbeitet und veröffentlicht wurden. Nun hat auch Bundesgesundheitsminister Spahn ein Programm angekündigt, um die Gesundheitsämter „in die 2020er Jahre zu bringen“.
Genauer beschreibt dieses Dilemma der folgende Twitter-Thread. Bemühungen bündeln statt zwischen verschiedenen Ansätzen und unterschiedlich angelegten Datensammlungen zu springen?
ÖGÖG
Auf unserer vergangenen D3-Expedition zum Thema „Daten“ haben wir bei Wikimedia Deutschland ein neues Lieblingswort gelernt: ÖGÖG. Das klingt nicht nur niedlich – sondern auch sinnvoll. ÖGÖG ist die Abkürzung für den gesellschaftlichen Claim: Öffentliches Geld – öffentliches Gut (oder auf englisch: public money, public code).
Die Sache mit dem Code kommt dem Thema näher: Es gibt schon jetzt die Absichtserklärung der Initiative PEPP-PT, den Programm-Code ihres Grundgerüstes offenlegen – das betonte auch der Beauftragte des Bundeswirtschaftsministeriums für Digitale Wirtschaft und Start-ups in der ARD: „Jede vom Staat entwickelte Software muss Open Source sein.“ Hier zeigt jahrelanges Beharren auf diesen Grundsatz Wirkung.
Zwang
Wir hätten diesen Abschnitt auch unter F wie Freiheit gruppieren können. Der CCC schreibt in seinen 10 Punkten:
„Grundsätzlich wohnt dem Konzept einer „Corona App“ aufgrund der möglicherweise erfassten Kontakt- und Gesundheitsdaten ein enormes Risiko inne. Gleichzeitig gibt es breite Anwendungsmöglichkeiten für „Privacy-by-Design“-Konzepte und -Technologien, die in den letzten Jahrzehnten von der Crypto- und Privacy-Community entwickelt wurden. Mit Hilfe dieser Technologien ist es möglich, die Potenziale des „Contact Tracing“ zu entfalten, ohne eine Privatsphäre-Katastrophe zu schaffen.„
10 Prüfsteine für die Bewertung von „Contact-Tracing“ Apps
Es ist also eigentlich möglich, die Corona-Tracing-App so aufzubauen, dass eigene Daten und damit die Privatsphäre geschützt werden. Das hiesse beispielsweise, dass die über das Tracing (was anders als das Tracking nur die Kopplung zweier Handys erfasst, nicht aber an Bewegungs- und Standortdaten geknüpft ist) erfassten Daten, nur auf den Handys der betroffenen Personen gespeichert und nach 2-3 Wochen gelöscht werden.
Doch wie eingangs beschrieben, ist die PEPP-PT in Bezug darauf in zwei Lager gespalten: Denn natürlich wird es bei der dezentralen Speicherung so nicht möglich, genaue Schlüsse über kritische Orte, Personen und die tatsächlichen weiteren Infektionsketten zu treffen. Auch die Bundesregierung tendiert wegen der wertvollen Daten für die weitere Eindämmung des Virus zur zentralen Speichervariante.
UPDATE: Direkt nach Veröffentlichung des Beitrags schwenkte die Bundesregierung auf Grund der regen nachdrücklichen Diskussion um und zielt nun auch auf das dezentrale Modell. Infos gibt es unter anderem bei der Tagesschau.
Aber auch, wenn eine App nach den Hinweisen des CCC und anderer von den technischen Möglichkeiten her größtmöglichen Datenschutz ermöglicht: Es bleibt der Faktor Mensch.
Die eine Frage wird sein: Wie viele Menschen installieren sich die App? Henning Tillmann, Co-Vorsitzender des digitalpolitischen Think-Tanks D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt gab in einem Interview zu bedenken, dass selbst aus Selbstnutz installierte Apps nicht leicht die kritische Nutzer:innenzahl erreichen, die die App bräuchte, um ihre Wirkung voll zu entfalten. So hätte es von der Einführung an bei WhatsApp zehn Jahre gedauert, um 60 Millionen Nutzende zu erreichen – das ist auch eine Zielmarke, die für die Corona-App gewünscht wird.
Doch schon jetzt wird überlegt, wie man den Druck auf die Bürger:innen erhöht, die App auch wirklich zu installieren. Bei der derzeit unterbrochenen Kooperation mit Google und Apple würde die App automatisch über ein Betriebssystem-Update auf dem Handy erscheinen, man müsste nur noch aktivieren. Und sonst – doch den Druck erhöhen? Dies lehnt der CCC entschieden ab, ebenso wie die positive Anreizsetzung für die Nutzung der App, beispielsweise durch Vergünstigungen in anderen Bereichen.
Es bleibt spannend!
Wir verfolgen die lebhafte Diskussion weiter und sind gespannt, wo es hingeht! So oder so hat diese Recherche bestätigt: Eine reiche und in weiten Teilen konstruktiv-kritische Diskussion setzt Eckpfeiler für die Gestaltung der Corona-App. Einer App, die die guten Aspekte der Digitalisierung nutzt – und die Schattenseiten in Schach hält. Danke!
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