Holger Dieterich bastelt gern. Am liebsten in Gesellschaft. Und dabei ist das Internet für ihn bis heute ein Werkzeugkasten, in dem er das richtige Zubehör findet, um Probleme zu lösen. Gemeinsam mit anderen hat Holger die Welt durch eine App verändert. Auf allen Kontinenten nutzen Menschen Wheelmap – die größte Onlinekarte, die rollstuhlgerechte Orte zusammenträgt und bewertet. Täglich wächst die Sammlung durch hunderte neue Einträge. Das Kollektivprojekt ist heute, über zehn Jahre nach dem Start, in 33 Sprachen übersetzt und verbindet international.
Die Anekdote zur Geburtsstunde von Wheelmap erzählt Holger inzwischen routiniert. Mit seinem Studienkollegen Raul Krauthausen – weithin bekannt als Menschenrechtsaktivist für Inklusion und Barrierefreiheit – hatte er den zündenden Gedanken bei einem Kaffee. „Wir haben uns damals häufig getroffen, um Projekte zu spinnen“, sagt Holger. „Wir gingen immer in das gleiche Café in Rauls Nachbarschaft. Irgendwann habe ich ihn mal gefragt, warum eigentlich.“ Dessen Antwort war so einfach wie entscheidend: „Weil ich nicht weiß, ob ein Café bei dir am Eingang eine Stufe hat.“ Dieterichs Freund sitzt im Rollstuhl.
Diese Erinnerung fällt in die Zeit des Web 2.0. Holger beschreibt es als geradezu elektrisierende Phase der Digitalisierung: „Das Netz wurde als große Mitmachaktion begriffen, überall gab es Communities, es ging um Mitgestaltung und Teilhabe.“ Das habe die Studenten angesteckt.
„Wenn jede und jeder mithelfen würde, könnte eine App das Leben von Rollstuhlfahrer:innen und Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, von Grund auf verändern. Das hat uns angespornt.“
Analog und digital: Gemeinsam die Welt besser machen
Das Startkapital brachte Raul Krauthausen ein. Mit dem Verein Sozialheld*innen, den er gemeinsam mit seinem Cousin 2004 gegründet hatte, gewann er 2009 den Deutschen Engagementpreis. Die 10.000 Euro Preisgeld investierte er in den Aufbau der App Wheelmap. Heute ist sie eines der wegweisenden Projekte des Berliner Vereins, in dem konstruktive Macher:innen täglich an Lösungen sozialer Probleme und Ungleichheiten arbeiten.
Und so funktioniert Wheelmap: Weltweit können Nutzer:innen Orte markieren und über ein Ampelsystem bewerten, wie zugänglich diese sind. Rot bedeutet nicht zugänglich, gelb nur eingeschränkt, grün voll zugänglich. Inzwischen sind über eine Million Orte verzeichnet, egal ob Restaurants, öffentliche Gebäude, Supermärkte, Freizeiteinrichtungen. Rund 300 neue Einträge gewinnt die App am Tag hinzu. Deutlich mehr sind es, wenn über Wheelmap ein teambildendes Event für Unternehmen veranstaltet wird. Großkonzerne mit internationalen Standorten und Mitarbeiter:innen tragen dann in einem Tag gern bis zu 1000 neue Orte zusammen. Auch mit Städten oder Landkreisen kooperieren Holger und Co., um Karten zur Barrierefreiheit auf Kreis- oder Stadtebene zu bauen.
Es braucht digitale Standards für Barrierefreiheit
„Eigentlich sollte es so eine App gar nicht geben, sie sollte überflüssig sein“, reflektiert Holger seine Arbeit als Vorstand der Sozialheld*innen überraschend. „Informationen zur Barrierefreiheit sollten überall vorhanden und zugänglich sein.“ Um mehr Breitenwirkung zu entfalten, gehen die Wheelmap-Erfinder:innen deshalb auch andere Wege. Das Team gründete 2015 die offene Datenplattform Accessibility.Cloud, um Daten zur Barrierefreiheit zu kollektivieren. Zudem arbeitet Dieterich auch an der Entwicklung eines internationalen Standards, um etwa die Barrierefreiheit von Hotelzimmern zu beschreiben.
„Stell dir sich vor, dass du bei Booking.com oder Google-Hotels einheitliche Informationen dazu findest, ob es eine Roll-in-Shower für Menschen gibt, die einen Rollstuhl haben. Oder dazu, wie ein Hotelzimmer für blinde Menschen ausgestattet ist.“ Als Mitglied in den Standardisierungsgremien des World Wide Web Consortiums nimmt Holger Einfluss, um das zur Selbstverständlichkeit zu machen. „Wir glauben, dass das der Weg ist, die Produktmanager:innen von Apps zu erreichen. Es gibt ja sehr große Mapping-Apps mit zwei Milliarden Nutzer:innen. Wenn Standardinformationen zur Barrierefreiheit dort eingebaut wären, hätte das wesentlich mehr Reichweite, als wenn sie in unserer vergleichsweise kleinen Wheelmap eingebaut sind.“
Der Grundgedanke des Vereins reicht damit über die eigene aktivistische Arbeit hinaus. „Wir sind Behindertenrechtsaktivist:innen, die sich für Menschenrechte einsetzen, aber wir sind auch richtige Nerds, die es verstehen aus Software, Technologie und Daten komplizierte Anwendungen zu bauen“, sagt Holger. Das werde nach außen offen und verständlich kommuniziert. Nur so könne etwas in Bewegung geraten und sich die Gesellschaft zum Besseren wenden.
Digitalisierung und Barrierefreiheit – klappt das?
Neue Tools brauche es dafür nicht: „Das Web ist per se barrierefrei.“ Auf jedem Smartphone und Notebook sei Software vorinstalliert, die Barrierefreiheit garantiert. Zum Beispiel ermögliche die Sprachausgabe für sehbehinderte Menschen Teilhabe, Schrift- und Bildgrößen sowie Kontraste können zudem individuell angepasst werden. Auch die Untertitelung von Videos oder Onlinekonferenzen unterstützt längst nicht nur gehörlose Menschen.
„Bei all diesen positiven Aspekten haben mir Menschen mit Behinderung aber auch gesagt, dass das barrierefreie Netz eine zumindest bedenkliche Konsequenz haben kann. Es darf nicht dazu führen, dass das Bürgeramt keine Rampe mehr für Rollstuhlfahrer:innen hat, weil alles online erledigt werden kann. Ähnlich ist es beim Onlineshopping. Es ist ein Vorteil für alle Menschen in Ruhe einzukaufen, darf aber nicht bedeuten, dass Menschen mit Einschränkungen den Geschäftsbesuch nicht mehr machen können, weil der Laden nicht zugänglich ist.“
Innovationskraft statt Minimallösungen
Ein Umdenken wünscht sich Holger in puncto digitaler Innovationskraft. „Verschnarcht“ seien Deutschlands Ambitionen: „Der Fortschritt kommt hauptsächlich aus den USA und Kanada. Das iPhone und Android sind barrierefrei, weil in den USA Firmen gesetzlich dazu verpflichtet sind.“ In der EU wurde mit dem European Accessibility Act erstmals 2019 beschlossen, die Privatwirtschaft zu digitaler Barrierefreiheit zu verpflichten. „Der Fokus liegt auf Geräten wie Geldautomaten oder dem Online-Shopping, weil Ticketing-Systeme barrierefrei sein müssen.“ Man habe damit aber nur das Allernötigste umgesetzt.
Die Alternative zu solchen Minimallösungen sähe laut Holger einfach aus. „Wenn die öffentliche Hand eine Ausschreibung für eine digitale Innovation macht, sollte zur Bedingung gemacht werden, dass das Produkt nach BITV-Norm (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung) barrierefrei sein muss.“ Der Effekt sei berechenbar: Alle Agenturen und Dienstleister, die sich auf so eine Ausschreibung bewerben, werden sich weiterbilden müssen, um das überhaupt zu erfüllen.“
Mentale, nicht technische Hürden überwinden
Dass es sich lohnt, liege auf der Hand. Die Innovationskraft von Barrierefreiheit habe sich in der analogen Welt längst erwiesen. Der sogenannte Curbcut-Effekt beschreibt, dass Ideen, die ursprünglich als barrierefreies Feature geplant waren, allen Menschen helfen. Dieterich nennt ein Beispiel: „Abgesenkte Bordsteinkanten wurden nach 1945 für die US-Kriegsveteranen eingeführt, damit diese mit dem Rollstuhl Straßen überqueren konnten. Selbstverständlich profitieren davon auch Senioren, Kinder mit Laufrädern, Familien mit Kinderwagen, die Müllabfuhr. Also alle.“
Im Digitalen entfalte sich die gleiche Wirkung. Die Textnachricht in Form der SMS sei ursprünglich als ein Angebot für gehörlose Menschen entwickelt worden. Heute werden täglich Milliarden Textnachrichten verschickt. „Und noch ein Beispiel: In der Bahn will ich nicht, dass Videos bei Facebook von allein starten und mit Ton laufen. Deswegen helfen mir die Untertitel genauso.“ Letztlich gehe es um Problemlösungen, die für alle Sinn machen. „Diese Denke muss einfach grundlegend werden.“
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