Digitales Engagement: Klischees brechen, Grenzen überwinden

Schon vor Beginn der Pandemie hat sich Gül Yavuz, 50, zur Aufgabe gemacht, Organisationen für digitales Engagement zu begeistern. Es tut sich was – aber noch zu wenig, findet die Koordinatorin für digitales Engagement. Wie kann freiwilliges Engagement digital funktionieren? Und wie lassen sich Menschen dafür begeistern?

Gül Yavuz, Koordinatorin digitales Engagement beim D3 - Community Event in Berlin

Liebe Gül, wie schafft ihr es bei der oskar | freiwilligenagentur in Berlin-
Lichtenberg, Hilfesuchende und Helfer:innen zu vernetzen?

Wir sind eine Freiwilligenagentur für alle, so steht es auch in unserem Leitfaden. Unsere Angebote richten sich also nicht exklusiv an eine bestimmte Gruppe. Wir schließen niemanden aus. Zu uns kommen Menschen, die sich engagieren wollen. Unsere Berater:innen setzen sich mit den Menschen zusammen und schauen nach passenden
Einsatzorten in unserer Datenbank. Die Freiwilligen können dann eigenständig Kontakt mit den Organisationen, Projekten und Initiativen aufnehmen. Das ist der klassische Weg. Doch wir haben gemerkt, dass wir die junge Zielgruppe zwischen 20 und 35 Jahren nur schwer erreichen. Daher haben wir uns mit Vostel vernetzt, einer digitalen Engagementplattform. Sie funktioniert wie eine Onlinebörse, auf der zahlreiche Angebote von Non-Profit-Organisationen stehen, die auf der Suche nach Freiwilligen sind. Dort haben wir ein Profil, auf dem unsere Beratungszeiten stehen und wir Engagementangebote einstellen. Das funktioniert super.

Was verstehst du unter digitalem Engagement?

Für mich ist digitales Engagement sehr breit gefächert. Dazu habe ich auch schon Grundsatzdiskussionen mit Menschen aus anderen Freiwilligenagenturen geführt. Sie waren der Meinung, dass es nur dann digitales Engagement ist, wenn es keine menschliche Beteiligung gibt und das Analoge sehr minimiert ist. Für mich ist digitales Engagement jede Form des Engagements, das durch digitale Anwendungen und digitale Unterstützung funktioniert. Das kann auch nur part-time sein, beispielsweise wenn etwas digital erfasst, recherchiert oder hochgeladen wird. Auch Programmierworkshops oder Smartphone-Kurse zählen für mich dazu.

Was ist deine Aufgabe als Koordinatorin für digitales Engagement?

Zu meinem Job gehört ganz viel Aufklärungs- und Sucharbeit. Das Bewusstsein für digitales Engagement fehlt vielerorts noch. Daher gibt es auch nicht so viele Angebote, wie ich mir wünschen würde. Und die Angebote, die es gibt, bewegen sich oft in ihrem eigenen Dunstkreis und Kosmos. Deswegen besteht auch ein Teil meiner Arbeit darin, dass ich Organisation berate, auch proaktiv. Ich gehe auf Organisationen zu, frage, ob sie vielleicht ein digitales Engagement anbieten wollen, ob Bedarf besteht. Das kann eigentlich jede Organisation sein, vom Sportverein, der Hilfe für die Öffentlichkeitsarbeit braucht bis zum Besuchsdienst für Seniorinnen, die sich über eine Chatgruppe organisieren wollen. Das ist sehr individuell und da gilt es herauszufinden: Was wünscht sich die Organisation – und kann das vielleicht digital gelöst werden?

Ich versuche also, Angebote für uns zu generieren, die wir in unsere Datenbank aufnehmen können. Dafür vernetze ich mich, schaffe Bewusstsein und mache Werbung für digitale Angebote, damit sie populärer werden. Ich habe übrigens in den letzten zwei Jahren tatsächlich keine anderen Koordinator:innen für digitales Engagement in Freiwilligenagenturen gefunden.

Schließlich bin ich selbst etwas untypisch für dieses Feld, das ich jetzt hier vertrete. Ich bin keine 30 mehr und auch nicht ständig auf irgendwelchen hippen Events unterwegs. Ich breche das Klischee und lerne dabei nie aus. Ich will immer wissen, was gerade geht und bilde mich weiter, damit ich digitale Anwendungen auch anbieten oder Leute dazu beraten kann.

Gül Yavuz übernimmt bei der Eröffnung des DiNa-Treffs bei der oskar | freiwilligenagentur in Lichtenberg die Plakette von Robert Ossenkopp, Digitalreferent bei der Digitalen Nachbarschaft. (Foto: Peter Wagenknecht)

Wie sieht das digitale Engagement bei oskar aus?

Wir versuchen digitale Angebote so breit wie möglich aufzustellen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Digitales Engagement ist noch immer der Pionier unter den Freiwilligendiensten. Wir kooperieren beispielsweise mit der Digitalen Nachbarschaft, die unter anderem auch Datensicherheitsworkshops anbieten. Manchmal biete ich auch selber Workshops an, zum Beispiel habe ich einen Kurs über das Webtool Canva gegeben, eine Grafikdesign-Plattform für die Erstellung von visuellen Inhalten. Damit können Organisationen und Projekte beispielsweise Flyer ganz einfach und vor allem kostenlos gestalten.

Im Bereich junges Engagement läuft bei uns bereits vieles digital, das liegt in der Natur der Sache. Wir haben beispielsweise gerade ein Projekt abgeschlossen, in dem Studierende der Hochschule für Wirtschaft und Technik zu Coaches ausgebildet wurden. Sie beraten jetzt Organisationen aus Anwendersicht, damit sie junge Menschen besser erreichen. Werbung, Ton, Ansprache – vielerorts könnte das besser auf die jüngere Generation zugeschnitten sein. Und natürlich gibt es auch Einrichtungen, die uns Engagementanfragen im Bereich Grafik, Fotografie oder Video schicken. Bei uns in Lichtenberg ist beispielsweise der Senioren-Computer-Club sehr aktiv. Gerade Senior:innen kämpfen mit dem Klischee, nicht digital affin zu sein, bei Frauen ist es sogar doppeltes Klischee. Wenn sie Unterstützung brauchen, etwa zur Betreuung der Webseite, für Seminare oder auch Einzelcoachings, wenden sie sich an uns.

Hat die Pandemie das digitale Engagement vorangetrieben?

Im Digitalen ist der Zugzwang jetzt viel größer. Entweder man macht es digital oder man macht es gar nicht. Vieles geht plötzlich ganz einfach, was vor Jahren oder Monaten noch undenkbar war. Trotzdem sind viele Menschen, die sich engagieren, traurig über die Situation seit Beginn der Pandemie. Denn auch für Freiwillige, die sich fast ausschließlich digital engagieren, ist das Hauptmotiv ihres Engagements fast immer der soziale Aspekt und die Gemeinschaft dahinter. Die lässt sich zwar auch digital herstellen, aber sie kann analoge Kontakte nicht ersetzen.

Die Verlagerung ins Digitale hat aber natürlich auch Vorteile: Vieles lässt sich von Zuhause aus erledigen. Das spart Zeit und Energie. Das Angebot kann in Lichtenberg sein, muss es aber nicht. Es darf auch dezentral sein. Und ein paar Leute, die sich vorher nie mit Digitalisierung beschäftigt haben, zum Beispiel Menschen, die besonderen Unterstützungsbedarf für ihr Engagement brauchen, haben mit der Pandemie digitale Grenzen überwunden. Einige wollten am Anfang nicht an Treffen via Zoom teilnehmen, weil es neu für sie war, ungewohnt und eine technische Herausforderung. Wenn sie sich dann doch darauf eingelassen haben, waren sie stolz auf sich, weil sie ihre Grenzen überschritten haben. Und weil sie gemerkt haben, dass es nicht schwer ist, wenn man sich drauf einlässt.

Was sind momentan die größten Herausforderungen in deinem beruflichen Alltag?

Ich fühle mich manchmal ein bisschen allein, weil ich auf so wenig Erfahrungswerte zurückgreifen kann. Positiv ausgedrückt könnte ich auch sagen, ich bin eine Pionierin, und das ist eben nicht immer leicht. Auch weil die digitalen Kompetenzen der Menschen so unterschiedlich sind. Auf der einen Seiten gibt es die Programmierer und IT-Spezialisten, auf der anderen Seite die Leute, die lernen wollen, wie sie eine E-Mail schreiben. Das Spektrum ist groß und ich muss trotzdem alle einfangen und mitnehmen.

Eine weitere Herausforderung sind die fehlenden Endgeräte. Da spielt auch das Thema Armut eine Rolle, das lässt sich nicht wegleugnen. Bei vielen Organisationen und Initiativen sind fehlende Endgeräte oder eine unzureichende technische Ausstattung ein Problem, weil sie Menschen ausschließen oder sie daran hindern, sich einzubringen. Es
gibt aber auch viele Glücksmomente in meinem Job, nämlich immer dann, wenn Menschen zusammenfinden und beide Seiten wirklich etwas davon haben. Oder wenn jemand plötzlich mit einer digitalen Anwendung umgehen kann, die ihm oder ihr neue Möglichkeiten der Teilnahme eröffnet.

Was wünscht du dir in deinem Job für die Zukunft?

Für die Zukunft meiner Arbeit wünsche ich mir, dass alles selbstverständlicher wird und Menschen digitales Engagement mehr auf dem Schirm haben. Es wäre toll, wenn ich Kolleg:innen hätte, die ebenfalls im Bereich der Engagementvermittlung arbeiten. Menschen, die die gleichen Interessen und Ziele haben wie ich, mit denen ich
netzwerken und vielleicht sogar gemeinsam Projekte initiieren kann. Und ich wünsche mir, dass die digitale Welt und das digitale Engagement für möglichst viele Menschen zugänglich ist. Dass das Digitale seinen Exklusivcharakter verliert und Menschen es einfach nutzen, weil es praktisch und gut ist und sie voranbringt. Das ist mir eine Herzensangelegenheit.

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