Nur mal kurz die Welt retten? Über Achtsamkeit und Wellbeing im dritten Sektor

Wir leben in einer Zeit, in der die digitale Transformation unsere Lebens- und Arbeitswelt im rasanten Tempo verändert. Mit Anja Adler aus dem betterplace lab sprechen wir darüber, wieso Selbstfürsorge und Achtsamkeit (nicht nur in der Pandemie) wichtig sind.

Frau meditiert im Sonnenaufgang auf einer Bank auf einem Berg, Blick ins Tal

Liebe Anja – täglich hetzen Millionen Menschen im Hamsterrad durch ihren Alltag. Was können wir alle tun, um im Zeitalter der Digitalisierung mit der permanenten Erreichbarkeit achtsam mit uns zu sein?

Der Körper ist eine ganz wunderbare Wahrnehmungsebene. Wer achtsam mit sich sein möchte, kann in sich hineinhören, die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und adressieren. Es geht darum, sich zu fragen, wie geht es mir gerade, was spüre ich, wie kann ich das benennen? Dafür hilft es, wenn Menschen ihren Körper durchgehen, ehrlich zu sich sind und Worte finden, die ihren Zustand beschreiben. Wo fühlt es sich eng an, warm oder schwer, gibt es Stellen, die pulsieren?

Einige haben das vielleicht schon als Kind gelernt. Alle anderen können es noch lernen. Das ist wie Fahrradfahren. Am Anfang muss man sich sehr viel auf die Technik des Fahrrads konzentrieren und gleichzeitig im Straßenverkehr klarkommen. Das fühlt sich vielleicht wackelig und überfordernd an. Aber später denkt man über das Fahrradfahren nicht mehr nach, sondern setzt sich drauf und fährt los. Genauso ist das mit der Selbstwahrnehmung auch.

Portrait von Anja Adler, Leiterin des wellbeing Programms beim betterplace lab
Anja Adler verantwortet im betterplace lab das betterplace well:being- und das betterplace co:lab-Programm. Sie ist überzeugt: Nur, wenn wir in Kontakt mit uns selbst sind und verantwortungsvoll mit unseren Ressourcen umgehen, finden wir Lösungen, die wirklich gut für uns und den Planeten sind.

Warum ist Selbstkontakt und Selbstfürsorge wichtig, um uns den Herausforderungen der heutigen Zeit zu stellen?

Wenn wir diesen Selbstkontakt hergestellt haben, können wir unser Umfeld in persönlichen und professionellen Situationen beeinflussen – und zwar zu unseren Gunsten. Ich bin überzeugt davon, dass der persönliche Zustand, aus dem heraus wir handeln, die Qualität des Ergebnisses enorm beeinflusst. Wenn ich Angst und Anspannung in meinem Körper erlebe, dann reagieren bestimmte Gehirnregionen, die mich reaktiv agieren lassen. Damit schränke ich den Lösungsraum, der mir zur Verfügung steht, extrem ein.

Wenn ich aus einem entspannten und offenen Gemütszustand heraus handele, kann ich die komplexen Aufgaben, die sich in unserer Welt zeigen, ganz anders betrachten und aus einem viel weiteren, kreativen Lösungsraum heraus agieren. Und den brauchen wir, um die Probleme anzugehen, die wir heute in der Welt sehen. Viele Sicherheiten und einfache Erklärungsmuster brechen mit der Globalisierung und Digitalisierung immer mehr weg. Die Probleme sind komplex – und genau so müssen auch die Problemlösungen sein. Wenn ich mich dieser Herausforderung stelle, erzeugt das erstmal eine höhere Anspannung in mir. Damit ich feststellen kann, wann der Druck zu groß wird und mich sogar krank machen kann, benötige ich einen guten Selbstkontakt.

Bist du auch schon mal in diese Situation geraten?

Ich habe vor über zehn Jahren angefangen, im Stiftungssektor zu arbeiten. Nach gut drei Jahren hatte ich meinen ersten eigenen Kontakt mit dem Thema Burnout. Das lag nicht nur daran, dass es in der Stiftungswelt einen hohen professionellen Anspruch und eine hohe Taktung an Ereignissen gibt, sondern an meinem eigenen Anspruch. Es gibt einen nicht enden wollenden Aufgabenberg, der vor uns liegt, wenn wir die Welt zu einem besseren Ort machen möchten. Viele Menschen brennen aus, während sie die Welt retten wollen, weil die Arbeit nie endet. So erging es mir auch. Ich wollte immer noch mehr machen, noch mehr Menschen helfen. Ich war hochmotiviert und bin schnell an meine Grenzen gekommen. Seitdem setze ich mich viel mit mir selbst und meinem sozialen Wirken auseinander. Wer bin ich und aus welcher Motivation heraus mache ich die Dinge in meinem Leben so, wie ich sie mache? Diese Fragen spielen eine andauernde Rolle in meinem Leben.

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Es gibt einen nicht enden wollenden Aufgabenberg, der vor uns liegt, wenn wir die Welt zu einem besseren Ort machen möchten. Viele Menschen brennen aus, während sie die Welt retten wollen, weil die Arbeit nie endet.

Was erzählt die Art, wie ich mit meinem Körper, mit meinen Gefühlen und den eigenen Ressourcen umgehe, darüber, wie ich mit anderen Menschen umgehe?

Das eine ist mit dem anderen verbunden. Davon bin ich fest überzeugt. Wenn ich ständig über meine eigenen körperlichen Grenzen gehe und ressourcenverschwenderisch agiere, dann lässt sich das von meiner generellen Haltung zum Leben schwer trennen. Wie kann ich von anderen erwarten, dass sie ihren Lebensstil auf diesem Planeten umstellen, wenn ich es nicht mal mit meinen eigenen Ressourcen hinbekomme? Für mich gibt es da eine starke Verbindung. Man muss auch bei sich selbst anfangen.

Wirkt die Pandemie als Katalysator?

Jetzt in der Pandemie lernen wir verstärkt, dass Selbstkontakt und die eigene Körperwahrnehmung zentral für unser Wellbeing und unsere Kommunikations- und Konfliktlösungskompetenzen sind. Wir sitzen alle viel zu viele Stunden ausschnitthaft vor diesem Rechner, der uns mit zahlreichen Menschen verbindet. Es gibt erste Studienergebnisse, dass dieser intensive Augenkontakt, der zwar indirekt, aber auch vergrößert ist, uns überfordert. Unsere Gesellschaft steht vor umfassenden Herausforderungen. Für Fragen der ökonomischen und politischen Teilhabe, des Umgangs mit natürlichen Ressourcen oder rasanter technologischer Entwicklung gibt es keine einfachen Lösungen. Sie verlangen eine kontinuierliche gesellschaftliche Aushandlung, die systemische Zusammenhänge wahrnimmt und akzeptiert, dass es vielfältige Entwicklungsszenarien gibt.

Diese Aushandlung kann gelingen, wenn Menschen aus allen Sektoren lernen, sich auf ihre verschiedenen Perspektiven einzulassen. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche gibt uns für eine solche intensivere Zusammenarbeit Werkzeuge an die Hand, fordert uns aber auch gleichzeitig. Vor zehn Jahren ging es beim Wellbeing am Arbeitsplatz noch um ergonomische Stühle und Hörschutz in Großraumbüros. Das hat sich spätestens mit der Home Office-Situation und den pandemischen Arbeitsbedingungen verändert. Heute sorgt unsere enorm gestiegene Bildschirmzeit für eine zweidimensionale Wahrnehmung anderer und zu viel mehr Spannung in unseren Körpern und Köpfen.

Vogelperspektive auf einen Schreibtisch, auf dem ein halb zugeklappter Laptop steht, davor ein leicht weggerückter weisser Designstuhl.
Foto: Luca Bravo/ Unsplash

Sind heute mehr Menschen auf Hilfe von außen angewiesen?

Wir arbeiten mit den drei Betriebskrankenkassen BKK VBU, Salus BKK und pronova BKK zusammen. Sie alle berichten, dass der Bedarf nach Unterstützung wächst. Nicht nur in unserem Feld, sondern in allen Sektoren, also auch in Familienunternehmen und Großkonzernen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung und Herausforderung,
die wir schon länger sehen. Unsere Arbeitskultur verändert sich und damit auch der Weg, der uns gesund durch den Arbeitsalltag steuert. Selbstkontakt und Körperwahrnehmung sind daher zentrale Kompetenzen.

Wobei ich mit der Verwendung des Begriffs Wellbeing manchmal hadere. Wenn man ihn bei Instagram eingibt, erscheinen Postkartensprüche und Yoga-Bilder. Das ist ja nicht per se verkehrt, aber für uns geht Wellbeing noch eine Ebene tiefer. Es ist die Kompetenz, die darunter liegt, die mir sagt, dass ich meine Grundbedürfnisse kennen muss. Am Ende können uns natürlich auch der grüne Wald, ein Smoothie oder eine Stunde Yoga helfen – oder aber die vielen kleinen normalen Dinge, wie etwa, den eigenen Terminkalender nicht immer so voll zu hauen oder uns gleichzeitig den globalen Problemen im digitalen Nachrichtenfluss zu stellen.

Was können wir alle ganz konkret tun?

Es gibt eine einfache Übung, die man ganz schnell in den eigenen Alltag einbauen kann, beispielsweise in ein Meeting: eine Reise durch die drei Ebenen der Körperwahrnehmung. Wie geht es mir körperlich, wie auf der emotionalen und wie auf der mentalen Ebene? Diese drei Ebenen müssen nicht immer synchron sein. Vielleicht hänge ich emotional noch bei einem Gespräch, das ich gerade im Flur geführt habe. Dann brauche ich nochmal kurz Raum, um das Gespräch loszulassen. Und das darf ich auch sagen. Gebt mir zwei Minuten, dann bin ich ganz bei euch.

Es gibt viele kleine Werkzeuge, doch jede:r muss für sich selbst rausfinden, wo sein oder ihr Wachstumsfeld ist. Vielleicht möchte ich mehr Yoga machen, meditieren oder aber endlich mal ein Gespräch mit meinen Kolleginnen über Thema X und Y führen, weil mich das total belastet. Es gibt Bücher, Apps, Internetvideos, die hilfreich sein können. Um die Werkzeuge im Alltag anwenden zu können, hilft ein sozialer Übungsraum, wo andere sind, denen es ähnlich geht wie mir. Wo ich mich nicht schämen muss und mich davon, wie andere Menschen mit einer Situation umgehen, inspirieren lassen kann.

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Wobei ich mit der Verwendung des Begriffs Wellbeing manchmal hadere. Wenn man ihn bei Instagram eingibt, erscheinen Postkartensprüche und Yoga-Bilder. Das ist ja nicht per se verkehrt, aber für uns geht Wellbeing noch eine Ebene tiefer. Es ist die Kompetenz, die darunter liegt, die mir sagt, dass ich meine Grundbedürfnisse kennen muss.

Im betterplace well:being-Programm schafft ihr diesen Übungsraum. Wer macht dort mit? Und was lernen die Teilnehmer:innen?

Die Workshops richten sich an alle Menschen, die sich hauptberuflich oder ehrenamtlich engagieren. Wir bieten einen Safe Space an, der auch digital gut funktioniert und keineswegs unpersönlich ist. Meine Teamkolleg:innen und ich setzen einen bestimmten Ton der Offenheit, so schaffen wir eine vertrauensvolle Kultur. Es ist toll, wenn ein Peer-to- peer-Learning stattfindet, die Teilnehmerinnen sich gegenseitig stärken, voneinander lernen. Das ist auch ein großer Mehrwert von unserem Programm. Am Ende sollen die Teilnehmer:innen klarer benennen können, wie es ihnen geht, wie es um ihren Körper steht und welche Situation in ihnen Spannungen auslösen – und welche nicht. Sie lernen beispielsweise, wie sie durch körperliche Übungen dafür sorgen können, mehr Energie in sich entstehen zu lassen.

Gemeinsam testen wir verschiedene Ansätze der Meditation. Und sie bekommen einen kleinen Handwerkskoffer mit Übungen, Reflexionsfragen, theoretische Modelle und konkreten Übungen zur Entscheidungsfindung und Körperwahrnehmung mit.

Wie schaffst du es, Achtsamkeit in deinen Alltag zu integrieren?

Ich bin sehr aufmerksam, was meinen Körper angeht. Er schickt mir sofort Signale, wenn etwas nicht stimmt. Wenn ich schlechte Haut bekomme, Rückenschmerzen, schlecht schlafe, sind das für mich rote Flaggen. Selbst, wenn es nur einmal passiert, bin ich sehr wachsam und überlege, wie ich im Alltag dagegen steuern kann. Wenn ich am Computer sitze, habe ich es mir zur Regel gemacht, oft aufzustehen. Ich gehe – wenn möglich – alle halbe Stunde in die Küche und hole mir einen Tee. Der Weg erlaubt mir einen Moment des Innehaltens und Abstands, kurz weg von der Beschallung, um zu gucken, was ich gerade brauche. Auch mein Zyklus dient mir als Blaupause für meinen Selbstcheck und einen gesunden Rhythmus. Tanzen und Yoga sind für mich gute Anker. Und jeder Mensch darf seinen oder ihren eigenen Anker finden.

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