Manchmal hat Andreas Sehnsucht nach Berlin. Die Kultur, die Restaurants, die Möglichkeit, „einfach mal ganz anonym in der Masse zu verschwinden“: Das braucht er immer mal wieder. Aber dann kommt er wieder nach Hause, ins sachsen-anhaltinische Tangerhütte. Gut 130 Kilometer und eine anderthalbstündige S-Bahn-Fahrt liegen zwischen dem Ort und der Hauptstadt – und manchmal auch Welten. Dass die Distanz in den letzten Jahren kontinuierlich kleiner geworden ist, liegt auch an Andreas.
Der 42-Jährige ist in Tangerhütte geboren und aufgewachsen. Nach dem Abi ging er „wie etwa 80 Prozent der Absolvent:innen unseres Jahrgangs“ weg: erst nach Leipzig zum Studium, dann als Musicalmanager nach Zürich, Köln, Basel, Stuttgart und zuletzt nach Berlin. Ein spannendes Leben habe er dort gehabt, erinnert er sich, „mit sechs-Tage-Woche, Arbeitszeiten von mittags bis Mitternacht, Montags frei“. Jetzt ist alles ganz anders und doch ähnlich: Andreas lebt mit seiner Frau und den drei Kindern in Tangerhütte. Er ist hauptamtlicher Bürgermeister der Einheitsgemeinde, mit Büro im Rathaus, ständig erkannt, wenn er vor Ort unterwegs ist. Gleich geblieben ist die hohe Arbeitsbelastung mit zwölf-Stunden-Tagen und vollgepackten Wochenenden – und das Smartphone, mit dem Brohm quasi verwachsen ist.
Digitalisierung ist viel mehr als Software und Datengeschwindigkeiten. Digitalisierung ist die Lust auf Veränderung.
Neues unter schwierigen Bedingungen
2014 ist Andreas nach Hause zurückgekehrt, nachdem er von Berlin aus für den Bürgermeisterposten kandidiert und mit spektakulären 72 Prozent gewonnen hat. Seither hat sich in Tangerhütte einiges verändert. Dessen 10.623 Einwohner leben auf 32 Ortschaften verteilt, auf einer Fläche, die größer ist als die Frankfurt am Mains. Unter schwierigen Rahmenbedingungen: Der Ort hat seit der Wende einen Abstieg hingelegt. Jede:r Fünfte hat der Gemeinde den Rücken gekehrt, die Bevölkerung, die geblieben ist, ist überaltert, die Gemeinde ist finanziell chronisch klamm und muss an allen Ecken und Enden sparen. Attraktiv für Zuzügler zu werden, ist schwer.
Andreas stellt sich der Herausforderung, neue Menschen für seinen Ort zu gewinnen, dennoch – und setzt dabei konsequent auf Digitalisierung. In den letzten fünf Jahren hat er den Ausbau des Glasfasernetzes vorangetrieben: Läuft alles nach Plan, ist sein Landkreis im Jahr 2022 das erste, in dem flächendeckend Glasfaser-Kabel verlegt sind. Dann werde die Altmark besser erschlossen sein als der Rest des Bundeslandes, sagt Brohm – und habe damit einen echten Standortvorteil. Denn schnelles und verlässliches Internet gehöre heute einfach dazu; eine Gemeinde, die das nicht bieten könne, könne nicht mit guter Lebensqualität für sich werben. Nicht alle halten schnelles Internet für so existentiell. „Sein“ Ministerpräsident Reiner Haseloff habe ihm schon mehrfach gesagt, er müsse in Tangerhütte doch nicht besseres Internet haben als in Magdeburg, erzählt Brohm. „Da kann ich ihm dann nur sagen, dass er falsch liegt“.
Doch Andreas will mehr als nur hohe Download-Geschwindigkeiten und verlässliches Streaming für alle Einwohner:innen von Tangerhütte. In den letzten beiden Jahren hat er auch seine Verwaltung konsequent digitalisiert und ist nun Herr über ein digitales Rathaus, das seinesgleichen sucht. Gewebeanmeldung oder Verwaltungstermine: 20 Verwaltungsleistungen können über ein Tangerhütter Bürgerkonto, das in einer App hinterlegt ist, erledigt werden. Andreas denkt groß: Am liebsten wäre ihm, seine Verwaltung könnte mit ihrem Angebot mit den großen Playern mithalten, „das Stichwort ist Amazonisierung der Verwaltung“.
Natürlich sei aber klar, dass das nicht möglich sei, „wir haben ja schließlich nicht die Möglichkeit, Rabatte und Sonderkonditionen anzubieten. Unser Produktportfolio ist einfach nicht sexy, wir haben im Wesentlichen Bescheide und Formulare zu bieten.“
Digitalisierung ist kein Selbstzweck
Dafür setzt Andreas aber auf einen anderen Aspekt, der für viele Verwaltungen bis heute Neuland ist: Kundenorientierung. „Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Es geht immer darum, damit etwas besser zu machen: die Arbeit der Mitarbeitenden im Rathaus genauso wie das Angebot für unsere Kund:innen.“ Allein die Tatsache, dass das Angebot über eine App funktioniert, ist dem Feedback eines Tangerhütters zu verdanken: „Der hat uns gesagt, dass es ja schön ist, wenn sein Bürgerkonto mit einer 2-Faktor-Authentifizierung gesichert ist – die ihm aber nichts nützt, wenn die Netzabdeckung so schlecht ist, dass er keine SMS empfangen kann.“
Bei jedem Angebot gehe es darum, sich zu überlegen, was es für Nutzer:innen attraktiv mache. So startete das digitale Rathaus Tangerhütte damit, dass Einwohner:innen, die aufgrund des Lockdowns die Kita für ihre Kinder nicht nutzen konnten, sich dafür die Gebühren rückerstatten lassen konnten. „Im Bürgerkonto gibt es dazu ein Formular, das schon vorausgefüllt ist. Da muss nur noch ein Häkchen gesetzt und das Ganze abgeschickt werden, das kann ich machen, wenn ich abends daheim bin und die Kinder im Bett sind.“ Aktuell – und auch das in Zeiten der Pandemie immens wichtig – kann die Kita-Notbetreuung über die App beantragt werden.
Corona als Katalysator
Dass all das im Frühjahr starten konnte, verdankt Andreas der Corona-Pandemie. Die habe es möglich gemacht, einfach loszulegen. „Da muss man ehrlich sein: Ohne den Lockdown hätten wir das so nicht gemacht. Da hätten wir mit dem Entwurf noch diverse Schleifen in Gremien gedreht und endlos über Layout und Schriftfarbe diskutiert. Aber so konnte niemand ins Rathaus, die Kita war ja nunmal zu – also haben wir einfach losgelegt und den Leuten gesagt, dass noch nicht alles perfekt funktioniert, wir aber alle Anregungen gern aufnehmen, um nachzubessern.“
Für die Zukunft sei denkbar, dank digitaler Möglichkeiten die Dorfgemeinschaftshäuser, die es in Tangerhütte gibt, zu attraktiveren Treffpunkten zu machen. „Man könnte die Schlösser über QR-Codes steuern, dann ist der Zugang jederzeit möglich, ohne dass es Personal von der Gemeinde bindet.“ Und auch der Aufwand für das Ablesen der Stromzähler sei bislang enorm hoch, weil Tangerhütte flächenmäßig so groß ist. „Aktuell sind da zwei Menschen zwei Wochen lang beschäftigt. Das ließe sich auch über digitale Anwendungen lösen.“
So begeistert Andreas von den neuen Möglichkeiten ist, so klar ist ihm auch, dass er mit seinem Gestaltungswillen seinen Mitarbeitenden einiges abverlangt. Veränderungen in lange praktizierten Arbeitsabläufen seien „nicht wirklich beliebt“. Dass man als Vorbereitung für die anstehenden Änderungen vor zwei Jahren im Rathaus in einen Prozess gegangen ist, bei dem es auch um die eigene Fehler- und Arbeitskultur ging, sei „durchaus schmerzhaft“ gewesen. „Zur Wahrheit gehört auch, dass wir vorher mit fünf oder sechs Projekten gescheitert sind, die ich gern umgesetzt hätte.“
Inzwischen aber sei der Zuspruch hoch und wenn die Tangerhütter:innen erst erlebt hätten, dass die Digitalisierungsoffensive ihres Bürgermeisters, der in diesem Jahr erneut kandidiert, ihnen nütze, werde er noch weiter steigen; davon ist Andreas überzeugt. „Der Aha-Effekt wirkt.“
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