Jörg Schüler: Digitales Empowerment an den Schulen

Der Geschäftsführer von „Digitale Helden“ wundert sich über die Konzeptlosigkeit in Sachen digitaler Bildung. Er ist davon überzeugt, dass bei diesem Thema das Knowhow der Schüler:innen stärker genutzt werden müsste.

Foto von Jörg Schüler von "Digitale Helden"

Es gibt viele Unternehmen, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, sie würden die Digitalisierung gestalten. Aber nur wenige, die dabei tatsächlich so konkret vorgehen wie das von Jörg Schüler. Seine gemeinnützige GmbH Digitale Helden bildet jugendliche Mentor:innen aus, die Jüngeren zur Seite stehen, wenn es Schwierigkeiten bei der digitalen Kommunikation oder dem Umgang mit Smartphone und Co. gibt.

Der Idee liegt eine wichtige Erkenntnis zugrunde: Eltern würden sich mit dem Thema häufig viel zu wenig auskennen, sagt Schüler, „und sie werden ab einem bestimmten Alter einfach nicht mehr als die Vertrauenspersonen wahrgenommen, an die man sich mit dieser Thematik wenden würde“. Aus der Psychologie sei bekannt, wie wichtig dagegen Ansprechpartner:innen der gleichen Generation seien; die sogenannte Peer Education funktioniere bei Jugendlichen „sehr, sehr gut“.

Wenn das Umfeld ratlos ist

Auf die Idee, Schüler:innen zu digitalen Helden auszubilden kam Schüler, als er selbst im Familienkreis darauf stieß, wie gering die Medienkompetenz bei vielen ausgebildet ist – allen guten Bekenntnissen der Schulpolitik und der Erkenntnis, dass an einer gut gestalteten Digitalisierung kein Weg vorbei führt, zum Trotz. „Mein Neffe hatte sich eine Open Source-Software runtergeladen und dabei unwissentlich ein Abo abgeschlossen. Als er das nicht gezahlt hat, kam eine Abmahnung – und sein Umfeld war ratlos.“

Das war 2010. Schüler, selbst Medieninformatiker und damals in der Werbebranche tätig, tat sich mit zwei Freunden zusammen und entwickelte zunächst Workshops für Eltern und Lehrende. Schnell sei die Erkenntnis gekommen, dass Veranstaltungen dieser Art für Erwachsene zwar interessant, aber immer nur einmalige Veranstaltungen waren. „Wir wollten aber etwas, das nachhaltig wirkt.“ Und so wurde das Konzept der digitalen Helden geboren. Inzwischen läuft das Mentoringprogramm an 166 Schulen in zehn Bundesländern. Schüler:innen und Lehrkräfte erhalten dabei on- und offline Kenntnisse zur Prävention von Cybermobbing und Datenschutz, Urheberrechten und Kommunikationsregeln, zum Umgang mit dem Internet und sozialen Netzwerken.

Wie dringend nötig das ist, belegen die Zahlen: Nach Studien leben 98 Prozent der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren in Haushalten mit Internet-Zugang, die Hälfte von ihnen besitzt selbst ein Smartphone oder Handy. 81 Prozent der 10- bis 11-Jährigen nutzt das Internet. Weit geringer ausgeprägt seien dagegen die digitalen und sozialen Kompetenzen, um sich in der digitalen Welt zu bewegen, warnen Expert:innen – und das insbesondere bei denen, die die Kinder eigentlich fit für das Leben machen sollen. Eine „mediale Steinzeit“ bescheinigt etwa der Ludwigsburger Professor für Medienpädagogik Thomas Knaus dem Gros der deutschen Schulen.

Inzwischen arbeiten Jörg Schüler und seine beiden Gründer-Kollegen in Vollzeit mit weiteren acht Mitarbeiter:innen für die gemeinnützige GmbH, sie bieten zusätzlich zum Mentorenprogramm Webinare, Fortbildungen und Veranstaltungen an. Dank der Unterstützung durch Stiftungen und Projektpartner ist das Helden-Programm für die Schulen erschwinglich: Sie zahlen pro Schuljahr einen Betrag von 870 Euro und werden dafür ein Jahr lang eng betreut.

Drei Fragen an Jörg Schüler. "Was ist deine aktuelle Lieblings-App?
Ganz verschiedene: Über Threema bleibe ich im Kontakt mit meiner Familie, über Udemy und Youtube lerne ich neue Sachen. Und ich höre viele Hörbücher. Zugegeben: Meistens zum Thema Lernen.  Auf welche Begleiterscheinungen der Digitalisierung 
könntest du am ehesten verzichten?
Auf den massiven Zeitschwund.  Angenommen, du wärest für einen Tag Digitalminister: 
Was wäre deine erste Amtshandlung?
Ich würde mir sämtliche wichtigen Expert:innen an einen Tisch holen und ihnen so lange Fragen stellen, bis ich alles weiß, was ich wissen muss. Und dann würden wir einen Zehn-Punkte-Plan entwickeln und
loslegen."

Vorreiter:innen – und Katastrophen

Schulleitungen, die sich dafür entscheiden, das Angebot anzunehmen, haben mindestens ein grundlegendes Interesse daran, Lernende und Lehrende digital fit zu machen. Dass das aber nicht für alle Bildungseinrichtungen gilt, ist Jörg Schüler noch einmal deutlicher als ohnehin schon geworden, seit die Corona-Pandemie die Diskussion um die digitale Bildung in Deutschland noch einmal in den Fokus gerückt hat. Schüler ist selbst Vater einer 12-jährigen Tochter und erlebt bei sich zu Hause und im Team aktuell hautnah mit, wieviel Nachholbedarf es auf diesem Themenfeld noch immer gibt. „Es gibt Schulen, da funktioniert das Lernen zu Hause gut, das ist dann immer dem Engagement einzelner Schulleitungen zu verdanken. In den meisten Fällen ist es aber eine Katastrophe.“

Wirklich überrascht habe ihn die Situation auch aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen nicht. Was ihn aber hörbar erschüttert ist die Konzeptlosigkeit vieler Beteiligter. „Man hätte doch spätestens ab Mitte letzten Jahres verschiedene Pläne für die Phase entwickeln können, in der Präsenzunterricht nicht in der üblichen Form möglich ist. Dann hätte es eine Entscheidung der Kultusministerien gegeben und es hätte losgelegt werden können. Aber dass man sich überhaupt erst Gedanken darüber macht, wie es weitergeht, wenn die Schulen schon geschlossen sind? Das will mir nicht in den Kopf.“ Dass 16 Bundesländer parallel an 16 Lösungen arbeiten und dabei auf ganz unterschiedliche Plattformen und Systeme setzen, die mal mehr und mal weniger gut funktionieren, sei eine immense Verschwendung von Geld und Ressourcen. „Warum gibt es nicht ein System für alle, das dann individuell angepasst wird?“

Mix aus analog und digital

Er erlebe gerade viele Eltern, die sich zwischen der eigenen Arbeit und dem Versuch, ihren Kindern bei der Bewältigung des Schulstoffs zu helfen, gnadenlos aufrieben, sagt Schüler, „da entsteht wahnsinnig viel Frust“. Dabei sei viel mehr denkbar, als nur Arbeitsblätter einzuscannen und per Mail zu verschicken. „Man könnte in geteilten Klassen einen Laptop aufstellen, über den die Kinder, die daheim sind, dem Unterricht folgen können. Und dann könnten Mitschüler:innen, die in der Schule sind, den Chat betreuen, um mögliche Fragen weiterzugeben.“

Die Schulen müssten sich das Know-How der Kinder und Jugendlichen zunutze machen und ihnen und ihren Fähigkeiten auch etwas zutrauen. „Ich glaube, dass es gut funktionieren kann, den Stoff digital weiterzugeben und die Kinder sich vieles selbst erarbeiten zu lassen – wenn es danach eine Phase der Reflexion und des Gesprächs gibt.“ Digitale Bildung gehe idealerweise mit dem Empowerment der Schüler:innen einher. „Gerade jetzt ist es wichtig, sie als fähige Individuen wahrzunehmen und daran zu appellieren, dass wir die Herausforderungen der aktuellen Situation nur gemeinsam hinkriegen. Da können Lehrer:innen auch mal sagen, dass sie selber manchmal ratlos sind und nach Wegen suchen. Diese Offenheit hilft dabei, gemeinsam Lösungen zu finden.“

Für Jörg Schüler ist die Kombination aus digitalen und analogen Anteilen ohnehin der Schlüssel für eine Digitalisierung, die der gesamten Gesellschaft nützt. Wenn er Eltern berät, wie sie die Mediennutzung ihrer Kinder am besten begleiten können, dann ist sein wichtigster Rat: „Immer im Gespräch bleiben!“ Es gehe nicht darum, starre Vorgaben zu machen, sondern gemeinsam herauszufinden, wofür und wie die Medien genutzt werden sollen. Nur so könnten Kinder und Jugendliche eine wirkliche Kompetenz im Umgang damit entwickeln. „Das Technische ist immer die flankierende Maßnahme – wie Stützräder am Fahrrad. Das Wichtigste ist aber der Austausch und das gegenseitige Vertrauen.“

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