Wir haben mit Tobias Stapf (wenn ihr euch vernetzen möchtet: Seine Facebook-Seite findet ihr hier) von Minor gesprochen, die seit mehreren Jahren Digital Streetwork betreiben und sich dem Thema auch wissenschaftlich widmen.
Lieber Tobias – was genau macht Minor?
Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung ist eine gemeinnützige Forschungseinrichtung in Berlin. Unser interdisziplinäres und interkulturelles Team arbeitet mit und für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen wie z. B. Migrantinnen und Migranten, sozial Benachteiligte, Inhaftierte und Menschen mit Behinderungen. Wir sind bundesweit und transnational aktiv in der Forschung, Programm- und Projektberatung, Weiterbildung, Netzwerkarbeit und Modellprojektentwicklung. Unsere Ziele bestehen darin, marginalisierte Gruppen in die Gesellschaft zu integrieren. Dazu gehören die Bereiche Arbeit und Bildung ebenso, wie gesellschaftliche und politische Partizipation und Teilhabe.
Was genau versteht ihr unter Digital Streetwork?
Digital Streetwork wird schon lange als Ansatz in der Jugendarbeit eingesetzt – weil es einfach Sinn macht, mit Angeboten dorthin zu gehen, wo die Menschen sind, mit denen man arbeiten möchte. In anderen Bereichen der sozialen Arbeit ist das bisher noch nicht so verbreitet. Als wir durch unsere Umfragen (hier findet ihr eine Übersicht: https://minor-kontor.de/digital-streetwork/) gemerkt haben, dass die meisten Neuzugewanderten in Berlin und Deutschland auch super aktiv in den Sozialen Medien sind (die Nutzungsraten insbesondere von Facebook sind für diese Gruppen wesentlich höher als in Deutschland im Allgemeinen) und dort nach Informationen suchen, dachten wir, dass Digital Streetwork auch für Neuzugewanderte ein sinnvoller Ansatz sein könnte.
Bei unserer Digital Streetwork geht es hauptsächlich um die Vermittlung von Informationen und die verlässliche Beantwortung von Fragen. Genau dort, wo Menschen, die aus dem Ausland nach Berlin und Deutschland kommen, ihre Fragen stellen: in den Sozialen Medien. Deswegen nennen wir es auch „aufsuchende Informationsarbeit“. Unsere Beratungsteams in den zwei Projekten „Neu in Berlin“ und „Migrationsberatung 4.0“) gehen also in die Gruppen, Foren, Seiten, Blogs etc., wo sich Neuzugewanderte informieren und austauschen. Wo wir einen Bedarf sehen, schreiben wir qualifizierte und gut recherchierte Antworten auf knifflige Fragen.
Dabei halten wir uns natürlich an die relevanten rechtlichen und ethischen Bestimmungen, wie die DSGVO oder das Rechtsdienstleistungsgesetz. Diese Vorgaben beschränken letztlich, welche Arten von Beratung wir in den Sozialen Medien anbieten dürfen, weil diese Kanäle keine gesicherte, private, DSGVO-konforme Kommunikation ermöglichen.
Bei einfachen Fragen liefern wir die nötigen Informationen in einer Art von „Erstberatung“. Wenn das nicht reicht, verweisen wir auf bestehende digitale Informations- und Beratungsangebote. Und bei komplexen Fragen, die im Einzelfall geklärt werden müssen, vermitteln wir den Kontakt zu passenden lokalen Beratungsstellen. Wie genau wir unsere Digital Streetwork Arbeit machen, ist auch in unseren Beratungsrichtlinien im Einzelnen beschrieben.
Es gibt inzwischen eine ganz Landschaft an digitalen und analogen Beratungs- und Informationsangeboten für Neuzugewanderte in Deutschland. Digital Streetwork ist also nur ein Ansatz in einem breiten Spektrum, welches von Werbung und Öffentlichkeitsarbeit auf der einen Seite, bis hin zu Onlineberatung auf der anderen Seite reicht (siehe Schaubild unten). Unserer Erfahrung nach ist es sehr wichtig, dass sich die verschiedenen Ansätze gut gegenseitig ergänzen und zusammenarbeiten, um die Nutzer:innen effektiv die Information oder Beratung zu vermitteln, die sie brauchen.
Welche Rolle spielt die Nutzung von Sozialen Medien bei der Beratung?
Eine lange Reihe von Umfragen belegt inzwischen, dass Neuzugewanderte aus der EU, Drittstaaten oder auch Geflüchtete viel eher ihre sozialen Netzwerke und Soziale Medien nutzen um wichtige Informationen zu finden, als die vielen bestehenden analogen Beratungs- und Informationsangebote. Sprich: Sie fragen ihre Bekannten oder suchen in Foren, Facebook-Gruppen oder Whatsapp-Chats nach Informationen. Gerade zu wichtigen, schwierigen Fragen – zum Beispiel zu Aufenthalts- oder Arbeitsrecht aber auch zu Krankenversicherung in Deutschland – enthalten die Diskussionen in diesen Foren leider oft irreführende oder sogar falsche Informationen. Darüber hinaus gibt es leider auch Fälle, in denen Ratsuchende auf betrügerische Angebote in diesen Foren hereingefallen sind. Das kann natürlich sehr ernste Folgen für die Ratsuchenden und ihre Integrationserfahrung in Deutschland haben und deswegen wollen wir mit dem Digital Streetwork Ansatz helfen, solche Fälle zu verhindern.
Obwohl diese Entwicklung bereits länger bekannt ist, nutzen die meisten Akteur:innen der Migrationsberatung die Sozialen Medien bisher kaum für die direkte Ansprache ihrer Zielgruppe. Wenn überhaupt, sind die meisten Beratungseinrichtungen bisher hauptsächlich für die Öffentlichkeitsarbeit oder für die Vernetzung mit anderen Beratungseinrichtungen in den Sozialen Medien aktiv. Wir sehen das als verschenkte Chance und wollen mit dem Digital Streetwork Ansatz diese Lücke schließen.
Wenn der Sinn von Digital Streetwork nicht darin bestehen kann, konkret zu beraten – worin liegen eurer Erfahrung nach die Stärken des Ansatzes?
Im Vergleich zur Onlineberatung bedeutet Digital Streetwork, dass die Ratsuchenden nicht auf die (DSGVO-konformen) Plattformen der Beratungsanbieter kommen müssen, um Beratung zu bekommen, sondern, dass die Beratenden in die digitalen und Sozialen Medien (wie z. B. Facebook-Gruppen der Community) gehen. Auf diesem Wege erhalten Ratsuchende verlässliche Informationen genau dort, wo sie nach ihnen suchen. Wir versuchen die Fragen so schnell wie möglich zu beantworten, um mit dem Rhythmus der Sozialen Medien mitzuhalten. Ein weiterer Vorteil ist dabei die Reichweite: Beiträge, die in Foren oder Gruppen gepostet werden, erreichen neben den Fragesteller:innen selbst auch weitere passive Mitleser:innen – damit erzielt die Beratung eine noch größere Reichweite als beispielsweise in einer 1:1-Beratung.
Dieses präventive Potential der Digital Streetwork kann die Arbeit der Beratungsanbieter erleichtern. Zum Beispiel, indem wir Informationen vermitteln, die eine Problemlösung ermöglichen, bevor die Situation zu einem Notfall wird, der letztlich mehr Kapazität der Beratungsanbieter in Anspruch nimmt. In vielen Fälle haben wir z. B. Informationen über Notfallunterbringung vermittelt, um Obdachlosigkeit zu vermeiden oder erklärt, warum man in Deutschland Krankenkassenbeiträge zahlen muss, um hohe Schulden bei der Krankenkasse zu vermeiden.
Worin bestehen eure größten Herausforderungen?
Wie wir wahrscheinlich alle auch schon selbst erfahren haben, ändern sich die Netzwerke in den Sozialen Medien ständig. Plattformen veralten, neue Plattformen entstehen etc. Auch die Foren und Gruppen, in denen Neuzugewanderte sich informieren, wechseln häufig oder werden geschlossen. Daher muss unser Team immer einen Überblick über diese Entwicklungen behalten, was natürlich ziemlich zeitintensiv ist.
Auch darf man nicht vergessen, dass Soziale Medien zwar eine große Reichweite ermöglichen, aber keineswegs alle Ratsuchenden über diese Kanäle zu erreichen sind. Das gilt laut unseren Studien besonders für Geflüchtete über 54 Jahren und auch für bestimmte Personengruppen, z. B. polnischsprachige Männer, die nur begrenzten Zugang zum Netzwerk haben oder vergleichsweise wenig in den Sozialen Medien aktiv sind.
Eine weitere Herausforderungen der Digital Streetwork ist auch, die persönlichen Daten der Ratsuchenden so gut wie möglich zu schützen. Wir machen das zum Beispiel, indem wir die Ratsuchenden auf Facebook darauf hinweisen, dass sie unter keinen Umständen sensible, personenbezogene Daten in den Sozialen Medien veröffentlichen sollten.
Außerdem legen wir großen Wert auf die Einhaltung von Qualitätsstandards und die ständige Weiterentwicklung unserer Arbeit. Dazu fragen wir bei jedem Beratungsvorgang nach Feedback. Das ist zwar sehr zeitaufwendig, ermöglicht es uns aber auch, unsere Beratungsarbeit kontinuierlich zu verbessern.