Timo Daum ist Experte für digitale Ökonomie. In seinem Buch „Die Künstliche Intelligenz des Kapitals“ klärt der Autor in zwölf klug illustrierten Kapiteln leicht verständlich darüber auf, wie sich die Computertechnik entwickelte und wie Daten, die Forscher:innen und Unternehmen mit ihrer Hilfe gewannen, zum wichtigen Rohstoff wurden. Von der Kaffeemaschine bis zur Gerichtsdatenbank: Timo Daum beleuchtet in seinem Buch eine Vielzahl an Lebensbereichen, die die Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Erstens, weil mehr Daten zur Entwicklung dieser Bereiche beitragen und zweitens, weil das große Interesse an digitalen Daten einen ganz neuen Handelszweig entstehen ließ, den er digitalen Kapitalismus nennt.
Turing-Test: ein historisches Blind Date
Dabei macht Daum auch historische Streifzüge, geht beispielsweise zurück zu einem Test, den der Informatiker Alan Turing 1950 erstmals durchführte, um die vermeintliche Intelligenz einer Maschine zu prüfen: Eine Testperson schrieb in einer Art Chat mit zwei anonymen Gegenübern, eins ein Mensch, das andere ein Computer. Wenn die Testperson den Unterschied im Chat nicht bemerkte, bestand der Computer den sogenannten Turing-Test. Doch Kritiker bemerkten schnell, dass reines Funktionieren eines Programms nicht ausreicht, um als intelligent zu gelten. Viel wichtiger dafür sind Intentionalität und ein Bewusstsein bei dem, was man tut. Und beides hatte bis dahin nur der Mensch.
Doch egal, wie stark oder schwach die künstliche Intelligenz unter Fachleuten galt, für das Marketing der Maschinenentwicklung war der Begriff ein Segen. Als kurz darauf eine amerikanische Hochschule erstmals mit “artificial intelligence” warb, brachte das ihrem Sommercamp der Wissenschaft einen Geldsegen und ebnete auf ungeahnte Weise den Weg für eine neue Wissenschaftsdisziplin, deren Strahlkraft bis heute immer weiter zunimmt.
Grundeinkommen dank Robotern
Auch aktuelle Produktentwicklungen ordnet Timo Daum mit Hilfe der Erkenntnisse von Soziolog:innen, Ökonom:innen und Aktivist:innen immer in die gesellschaftlichen und politischen Kontexte ihrer Zeit ein. Und genau dadurch entzaubert er die künstliche Intelligenz. Was Menschen wollen, wovon Wirtschaft profitiert, was Politiker interessiert; all das ist wichtig, um zu verstehen, was beispielsweise eine digitale Entwicklung hemmt oder befeuert.
Dabei gibt des Autors Analyse viel Anlass für Kritik, aber auch für aufrichtige Begeisterung. Denn mit mehr als zwanzig Jahren Erfahrung in der IT-Branche ist Timo Daum ein Verfechter des bestmöglichen auf Maschinen basierenden Lebens für alle Menschen. So liefert er im Kapitel “Vollbeschäftigung für Roboter” eine zeitgemäße Erweiterung der Definition von Menschenwürde im digitalen Zeitalter. Er formuliert eine Regel, “die den gesellschaftlichen Aspekt der Robotik berücksichtigt und gleichzeitig die Würde sowohl des Menschen als auch der Maschine: Roboter sollten Tätigkeiten, die sie beherrschen, auch übernehmen (dürfen). Menschen sollten nur Tätigkeiten verrichten, die Maschinen nicht können.” Ein von Robotern erwirtschaftetes Grundeinkommen scheint mit dieser Maxime zum Greifen nah und wird auch lange schon diskutiert.
KI – Marketingbegriff verschleiert Verantwortung
Um als mündige Bürger:innen an dieser Diskussion und zahlreichen anderen teilhaben zu können, ist es wichtig, dass Menschen aufgeklärt sind über die digitalen und wirtschaftlichen Prozesse – die Datenerhebung, Verarbeitung und Weiterverkauf, die Verantwortung und Zuständigkeit – die als “künstliche Intelligenz” verschleiert sind. Noch immer hält der Marketing-Hype “KI”. Große Unternehmen profitieren von der Scheu und der Ehrfurcht, die der Begriff bei den Nutzer:innen entsprechender Geräte auslöst. Denn wer angesichts menschenähnlicher Roboter an beinahe höhere Gewalt glaubt, fragt vielleicht weniger nach rechtlicher oder gar politischer Verantwortung, lässt sich als Erkenntnis dem Buch schnell entnehmen.
Deshalb nun an zwei Beispielen Daums zurück zur Entzauberung! Alle wissen im Grunde sehr genau, dass Computer nur so intelligent wie ihre Nutzer:innen sind. Dass sie bloß eine Software sind, die auf ausgeklügelten Algorithmen beruht – kleine Programme und Prozesse, die menschengemacht sind.
Beispiel #1: Gelauscht wird immer
Timo Daum vollzieht den Skandal nach, den der Verdacht auslöste, dass Amazon mit seinen Geräten angeblich Wohnzimmer bespitzelte. Mit Hilfe von Expert:innen macht er aus dem „Lauschangriff“ zwei simple Fakten: Erstens ist die Befriedigung der Bedürfnisse von Nutzer:innen nur ein Nebeneffekt der Technik – ein Köder, wenn man so will, der menschliche Bequemlichkeit ausnutzt. Zweitens ist das Sammeln von Informationen immer schon der Hauptzweck solcher Geräte, denn ihre scheinbare Intelligenz kommt ja nicht von ungefähr.
Lauschen müssen Siri und Co. sowieso ständig, um ihr Stichwort zum Einsatz nicht zu verpassen. Im Falle von Sprachassistenten liefern Menschen dem Computer so fortwährend Daten zur Optimierung von Spracherkennungsprogrammen. Das interessiert Unternehmen nicht nur für Forschung, sondern auch zur rechtlichen Absicherung. Mittlerweile sind nämlich deren Datenanalysen so fortgeschritten, dass Aufzeichnungen nicht mehr bloß den Wortschatz mehren, sondern helfen, nützliche Infos von Geräuschmüll zu filtern und so noch besseres Material liefern um Stimmlagen und –reizungen zu erkennen. Stimmlagen, um potentielle Kaufvertragspartner:innen von beispielsweise Minderjährigen zu unterscheiden und Stimmreizungen, um auf eventuelle Krankheiten mit Produktempfehlungen reagieren zu können. Das ist eines von vielen speziellen Beispielen mit denen Daum Allgemeines veranschaulicht.
Im Kurz- und Klartext: Unser Netzanbieter, unser Browserhersteller, das Kaufportal, der Gerätehersteller, Bank, Versandunternehmen und Produkthersteller nebst unzähligen durch Cookies zugeschalteten Unternehmen nutzen vom Mittagspausenverhalten bis zur IBAN die Informationen, die sie von uns erhalten, um ihre Dienste auszuführen und so zu optimieren und zu verzahnen, dass sie uns als etwas erschienen, was sie eigentlich nicht sind: intelligent. Wäre es da nicht sinnvoller, wenn auch Verbraucher:innen diese Daten sehen und benutzen könnten? Je mehr Daum die künstliche Intelligenz entzaubert, desto mehr aktiviert er bei Leser:innen den Drang nach digitaler Mündigkeit.
Beispiel #2: Kein Fahrpersonal, viele Fragen
Das wird anhand eines zweiten Beispiels noch klarer. Gerade da, wo künstliche Intelligenz im öffentlichen Raum erscheint, ist es wichtig, dass wir schauen, was dahintersteckt. Daum bespricht dazu den öffentlichen Nahverkehr in deutschen Städten, der versuchsweise schon fahrerlos läuft. Nichts erscheint uns künstlicher oder intelligenter, als ein Bus mit unsichtbarem Fahrpersonal. Gerade hier appelliert Daum mit seinem aufklärerischen Ansatz an bürgerliche Wachsamkeit, damit Initiativen, Kommunen und Gemeinden Chancen auf Teilhabe ergreifen und Stadtraum mitgestalten können.
Wo speichern welche Unternehmen die Daten, wenn Fahrgäste kontaktlos via Smartphone ein- und auschecken? Hat nur der Softwarehersteller ein Recht auf die Daten oder auch der Konzern, der die Triebwagen herstellt? Was ist mit dem Stadtverkehrsbetrieb? Darf der an die Daten und wenn ja, wie? Kann dann die Gemeinde darauf zugreifen, wenn sie den Stadtverkehr verwalten? Wer ist zuständig und reguliert Schäden bei Unfällen? Wer ist verantwortlich für alle ethischen Aspekte?
Wenn das die Zukunft ist, dann stecken hinter diesen Fragen langfristig gespeicherte Daten großer Bevölkerungsanteile. Viele Akteure verwerten die zwar gern wirtschaftlich und wissenschaftlich. Für die damit verbundenen Bürger:innen aber fühlen sich die wenigsten im Ernstfall verantwortlich.
Daten für den Dritten Sektor!
Klar hat es Vorteile, wenn auch Forschung und Wissenschaft auf Bewegungsdaten im öffentlichen Raum Zugriff haben, wenn sie nachhaltige Methoden entwickeln um Infrastrukturen auszubauen. Timo Daum, der gerade verstärkt zu digitaler Mobilität forscht, erinnert jedoch daran, dass gerade auch die Zivilgesellschaft wissen muss, wer verantwortlich ist, wenn das Kind versehentlich sprachbasiert einkauft, wenn ferngesteuerte Busse verunglücken. Dass der dritte Sektor neben großen Playern ein Recht hat, diese Daten ebenfalls zu nutzen um öffentlichen Raum zu gestalten, Projekte anzustoßen. Timo Daum macht sich stark für die gerechte Verteilung digitaler Mittel, Transparenz und einen von Mythen und Angst befreiten Zugang zu allen damit verwandten Themen.
Timo Daums Forderung nach gerechter Verteilung digitaler Mittel trifft bei unseren Partnern auf offene Ohren, wie der Politikbrief von Wikimedia 2019 zeigt.
Bild: Wikimedia Deutschland e.V.
KI – Diener mündiger Bürger:innen
“Die Künstliche Intelligenz des Kapitals” ist ein erhellender Ritt durch düstere und schillernde Beispiele der Anwendungsbereiche digitaler Datenverarbeitung, fundiert mit Erkenntnissen von Karl Marx und Immanuel Kant, gespickt mit Wissen über Drehbuchschreiben für Netflix oder Elon Musks Tesla. Auf 192 Seiten bespricht Timo Daum kritisch wie unterhaltsam ein internationales Panorama der Erscheinungsformen künstlicher Intelligenz, die – so viel sei noch gesagt – auch sexistisch sein kann, über Jobvergaben entscheidet oder auch für die Programmierer nicht mehr nachvollziehbar ist. Den Blick auf eine vielversprechende Zukunft, in der Roboter den Luxus der Menschen erwirtschaften, bewahrt Daum dabei immer. Und wenn Menschen nach dieser Wochenendlektüre weiter an künstliche Intelligenz glauben wollen, so doch dank Daums Vision hoffentlich als dienliches Instrument einer mündigen, befreiten Gesellschaft.
Informationen zum Buch
Timo Daum: Die künstliche Intelligenz des Kapitals.
Nautilus Flugschrift 2019, 192 Seiten, 16,00€.
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