Wenn Thomas spricht, klingt es, als würde er über ein Logistikunternehmen reden. Dabei geht es um einen Verein, der Senior:innen in Not hilft. „Meine Sprache ist völlig konträr“, sagt er und lacht, „aber ich habe mein halbes Leben lang logistische Netzwerke aufgebaut und gesteuert, IT-Projekte initiiert und implementiert.“ Der 53-jährige Münchner ist gelernter Rettungsassistent, Spediteur und Betriebswirt. Und seit fünf Jahren Mitgründer und Vorstandsvorsitzender von deinNachbar e.V., einem sozialen Unterstützungsnetzwerk für hilfsbedürftige Senior:innen und pflegende Angehörige.
Servicewüste deutsche Pflegelandschaft
Doch wie kam es dazu? „Im Jahr 2014 ging die Demografie-Diskussion ziemlich stark durch die Medien, das hat uns den Anstoß gegeben“, sagt er. Uns, das sind Thomas und seine damaligen Vorstandskollegen eines großen Logistikunternehmens. „In der Logistik ist es ganz normal, dass sie innerhalb von 24 Stunden überall in Deutschland ihre Waren geliefert bekommen. Es sind wahnsinnige Service-Level, die vereinbart und zu 98 Prozent auch eingehalten werden.“ Zusammen überlegten sie, wie ihr Knowhow im Bereich der Versorgung und Pflege von älteren Menschen helfen kann. Das Thema, so der Vorsitzende, werde die Menschen aufgrund der Demografie in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor immer größere Herausforderungen stellen. Und schon heute sei die Versorgung vielerorts unzureichend. „Wir haben eine brutale Diskrepanz festgestellt, zwischen der Definition von Service in der Logistikbranche im Gegensatz zur niedrigschwelligen Versorgung von hilfebedürftigen Menschen und pflegenden Angehörigen – Service gibt es dort nämlich gar nicht.“
Die Idee: Sie gründen einen gemeinnützigen Verein, deinNachbar e.V., „der die logistisch optimierte Versorgungseinheit ist“ und gleichzeitig die Helferportal GmbH und Co. KG, die dazu passende Software entwickeln und vertreiben soll, die auch von anderen Organisationen genutzt werden kann – „da es einfach noch keine vernünftige Software in diesem Bereich gab.“ So gründeten sie 2015 deinNachbar e.V. und bauten ein Netzwerk auf, in dem mittlerweile zwei festangestellte Pflegefachkräfte und 300 ehrenamtliche Helfer:innen tätig sind. Von Beginn an nutzten sie ein professionelles Auftragsmanagementsystem. „Damit konnten wir Aufträge erstellen und Rechnungen schreiben, aber die gesamte Koordination mussten wir manuell machen.“
„Wir wollten unsere logistische Kompetenz einbringen und gleichzeitig die Digitalisierung im sozialen Bereich voranbringen.“
Thomas Oeben (Foto: deinNachbar e.V.)
Pflegende Angehörige brauchen Entlastung
Thomas ist ein Zahlenmensch. Während des Gesprächs über Zoom untermauert er seine Aussagen immer wieder mit Statistiken, die er einblendet. Er nutzt renommierte Quellen, Zahlen von großen Versicherungsunternehmen, Stiftungen und Ministerien. „Wir haben 3,9 Millionen pflegebedürftige Menschen, von denen 80 Prozent ambulant versorgt werden“, sagt er, „und nur ein Viertel der Menschen bekommt Unterstützung von einem Pflegedienst.“ Sprich: Bei dem großen Rest sind pflegende Angehörige im Einsatz. „Und die haben nicht die Lobby und auch nicht die Kraft für bessere Konditionen zu kämpfen, weil die völlig am Ende sind.“
Oft seien pflegende Angehörige selbst hochbetagte Senior:innen oder aber Menschen, die noch im Arbeitsleben stehen. „Und die müssen noch einen Nebenjob machen, den sie nie gelernt haben, bei dem es keine Kollegen gibt, die man fragen kann, und die auch nicht blau machen können.“ Die Zukunftsprognosen seien alarmierend. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich laut Schätzungen des Bundesministeriums von 2,6 Millionen Pflegebedürftigen in 2014 auf 4,9 Millionen im Jahr 2030 fast verdoppeln. „Daraus resultiert eine prekäre Versorgungssituation der alten Menschen und eine Kostenexplosion“, sagt Thomas. Neue Lösungen müssten dringend gefunden werden.
Digitales Hilfsnetzwerk für die Pflege vor Ort
Die Vision des Vereins: Er möchte eine kostengünstige und qualitativ hochwertige Versorgung der Menschen innerhalb von 24 Stunden sicherstellen. „Wir wollten unsere logistische Kompetenz einbringen und gleichzeitig die Digitalisierung im sozialen Bereich voranbringen“, sagt Thomas. So baute der Verein ein flächendeckendes Netzwerk von ehrenamtlichen Helfer:innen auf, entwickelte das Helferportal und eine dazugehörende App. Das Konzept für das Portal hat der Logistiker selbst erstellt, die technische Umsetzung outgesourct. Entstanden ist ein komplexes Auftragsmanagementsystem, das die Bürokratie eindämmen und schnelle Hilfe gewährleisten soll. Im Jahr 2018 ging das Helferportal online, „2019 hatte es Marktreife.“
Wer sich auf dem Helferportal registrieren will, muss sich bei dem Münchner Verein vorstellen, ein polizeiliches Führungszeugnis vorweisen und eine Schulung zur Alltagsbegleiter:in machen. „Die Schulung dauert 14 Schulstunden und sie ist für unsere Helfer:innen kostenfrei.“ Danach müssen die angehenden ehrenamtlichen Kräfte ein Profil auf dem Helferportal erstellen. Dort können sie angeben, in welchem geografischen Gebiet sie eingesetzt werden wollen, wann sie Zeit haben und welche Aufgaben sie übernehmen wollen. Der Tätigkeitskatalog ist breit gefächert: Begleitdienste zum Friedhof oder zur Apotheke, hauswirtschaftliche Tätigkeiten, Fahrdienste. Alles lässt sich per Häkchen auswählen. In der Praxis seien es oft kleine Leistungen im Bereich Care-Taking, die die Hilfe so wertvoll mache. „Sie fragen, wann das letzte Mal getrunken wurde, helfen bei kleinen technischen Schwierigkeiten oder bei administrativen Tätigkeiten – so ein Schreiben von der Pflegekasse versteht ja kein Mensch.“ Die Fachkräfte würden den Mantel um die Ehrenamtlichen bilden, „wenn es zu viel wird, kommen die Profis ins Spiel.“
Weniger Bürokratie, mehr Zeit
Nach der Registrierung erhalten die Helfer:innen per App, E-Mail oder SMS die konkreten Anfragen mit Einsatzort und Tätigkeitsbeschreibung. Sie bekommen nur passgenaue Einsatzmöglichkeiten offeriert, „die zu hundert Prozent dem im Portal angegebenen Profil entsprechen.“ Per Tastendruck entscheiden die Helfenden, ob sie zu- oder absagen. „Bei uns im Verein sieht die Koordinatorin im Helferportal dann alle Zusagen und wählt die passende Person aus. Der oder die bekommt dann die Kontaktdaten über die App.“
Was so einfach klingt, ist in vielen Vereinen ein echter Zeitfresser. Helferlisten müssen nach passenden Kandidat:innen durchsucht und abtelefoniert werden. „Das ist auch der Grund warum die meisten Helferkreise relativ klein sind. Die haben vielleicht noch fünfzig Helfer:innen, weil sie alles manuell machen müssen. Der Prozess ist die Hölle.“ Neben der Auftragsvergabe übernimmt das Helferportal auch die Abrechnung mit den Pflegekassen oder den Selbstzahlern. „Sie ist innerhalb von einer Minute erledigt.“
Digitale Grenze: Helfer:innen ohne Handy
Doch auch in dem Münchner Verein gibt es zwölf Ehrenamtliche, die kein Handy haben. Sie sind trotzdem im Helferportal gespeichert. „Das System filtert also schon mal, ob sie überhaupt für die Tätigkeit infrage kommen. Das ist ein erster großer Schritt, der eine Wahnsinnserleichterung ist“, sagt Thomas Oeben. Doch wenn einer oder eine der zwölf infrage kommt, bleibe nichts anderes über, als zum Telefon zu greifen. „Aber es sind ja nur zwölf.“
Einen Großteil seiner Helfer:innen gewinnt der Verein in der Zwischenzeit über digitales Marketing. Eine Digitalmarketingagentur unterstützt sie seit über einem Jahr pro bono, also unentgeltlich. Und auch andere Vereine in Stuttgart, Freiburg und Mauchen nutzen mittlerweile das Portal. „Aber wir wollen hier kein Schwarzarbeiterportal entwickeln, sondern die qualitativ hochwertige Versorgung sicherstellen“, sagt Thomas, daher sei das Portal nicht von vorneherein für alle offen. Aber wenn man gleiches vorhabe, könne man sich an den Verein wenden. „Wir schulen auch Fachkräfte anderer Organisationen, erklären ihnen, wie sie eine Fachstelle für pflegende Angehörige aufbauen, wie man einen Helferkreis leitet oder wie die Software des Helferportals funktioniert.“
Gegen ein entsprechendes Honorar. Denn während der Verein von Spenden lebt, muss die Helferportal GmbH und Co. KG Geld erwirtschaften. „Am Anfang war ich viel zu naiv und dachte, das Problem, auf das wir zusteuern, ist so groß, da finden alle unsere Idee toll.“ Und unterstützen den Verein finanziell. Aber so sei es nicht gewesen. „Wenn man so einen Verein aufbauen will, dann muss man selbst die Finanzierung sicherstellen und einen beträchtlichen sechstelligen Betrag mitbringen.“ Knochenarbeit sei es gewesen. Jahrelang habe er sich die „Hacken abgerannt“, bis er 2019 eine Stiftung gefunden habe, die eine halbe Fachstelle finanziert.
Learning by doing: Jeden Monat ein neues Feature
„Wir sind ein lernendes Unternehmen, entwickeln uns permanent weiter und professionalisieren uns.“ Auf dem Portal kommen jeden Monat neue Features hinzu. „Die ganze Abrechnerei mit den Pflegekassen ist wahnsinnig komplex. Man kann das nicht von Anfang an bis zum Ende denken. Erst wenn man die Software nutzt, kommen die Geistesblitze.“ Gerade sei das Geoframing neu hinzugekommen, „mit diesem Tool lassen sich Helfer:innen nach ihren Wunscheinsatzgebieten filtern.“
Das Ziel allen Hilfebedürftigen innerhalb von 24 Stunden zu helfen, hat der Verein noch nicht erreicht. „Von unserer Vision sind wir noch weit entfernt“, sagt Thomas Oeben, „aber wir arbeiten daran, immer besser zu werden.“
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International Lizenz.