Dass sie einmal in Deutschland arbeiten würde, konnte sich Sabrina lange überhaupt nicht vorstellen. Noch weniger hatte sie auf dem Schirm, dass ihre Arbeit, die ursprünglich auf die Herausforderungen in Ländern des Globalen Südens ausgerichtet war, nun in ihrer eigenen Heimat dringend gebraucht wird.
Aber von Anfang an: Sabrina ist Politikwissenschaftlerin mit einem Master in Konfliktresolution und Governance, erworben an der Universität von Amsterdam. In den vergangenen Jahren war sie vor allem international unterwegs: in Uganda, Singapur, Vietnam und Südafrika. „Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich als Beraterin in Krisenregionen arbeiten würde.“ 13 Jahre arbeitete Sabrina für die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, an eine Rückkehr in die Heimat dachte sie nie. Doch dann kam das Jahr 2015 und mit ihm viele geflüchtete Menschen, die in Deutschland Schutz und eine neue Heimat suchten. „Und auf einmal habe ich festgestellt, dass ich mit dem, was ich kann und tue, auch hier gebraucht werde, weil es auch in Deutschland immer mehr gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen gilt.“
Bildung ist ein Menschenrecht
Seit 2017 ist Sabrina nun in Berlin und arbeitet aktuell für Kiron Open Higher Education: eine gemeinnützige Organisation, die das Ziel hat, es Geflüchteten mit digitalen Lern- und Unterstützungsangeboten leichter zu machen, sich auf ein Hochschulstudium oder den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Bisher seien die Hürden dafür extrem hoch, sagt Sabrina: „Es fehlt an Geld, es fehlt an Sprachkenntnissen, es fehlt an Dokumenten wie Zeugnissen und Abschlüssen.“ Das Online-Studium aber könne – dank der Hilfe von Kooperationen und Förderern – kostenfrei und unabhängig von Papieren oder dem Aufenthaltsstatus begonnen werden. „Damit gewinnen die Studierenden Zeit und können die Sprache lernen oder sich um die Formalitäten kümmern.“
Kiron-Studierende können nach der Anmeldung über die Lernplattform “Kiron Campus” Kurse in unterschiedlichen Fachrichtungen belegen, die ihnen akademische, aber auch berufliche Kompetenzen vermitteln. Ziel ist es, Geflüchteten die richtigen Werkzeuge und Tools an die Hand zu geben, damit sie bestärkt sind, den nächsten Schritt zu gehen. Das kann etwa der Einstieg in einen Job oder die Bewerbung an einer Universität sein. Nach der Zulassung an einer Hochschule können vorab erbrachte Lernleistungen angerechnet werden. Am Ende steht ein regulärer akkreditierter Studienabschluss in Aussicht. Oder eine neue berufliche Perspektive und die reelle Chance auf eine bessere Zukunft. „Für uns ist Bildung ein Menschenrecht“, sagt Sabrina, „wir wollen helfen, geflüchteten Menschen ihre Würde zurückzugeben.“
Wenn wir Probleme wie Kinder- oder Altersarmut betrachten, die Integration geflüchteter Menschen oder die Digitalisierung im Bildungswesen, dann erkennen wir ganz schnell, dass wir das mit den alten, rein auf Profit angelegten Werkzeugen nicht bewältigen werden. Öffentliche Förderung gibt es aber immer noch oft genau für diejenigen, die diese einsetzen.
Es braucht neue Ansätze
Alle Potentiale ausschöpfen: Das ist ein Ideal, dem Sabrina bei den Dingen, die sie tut, folgt. Sie sieht sich als Brückenbauerin zwischen den Welten – auch und vor allem zwischen dem sozialen Sektor und dem Unternehmertum. Deshalb hat sie neben ihrem Job bei Kiron einen zweiten: Die 29-Jährige ist auch ehrenamtliches Vorstandsmitglied beim Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e.V., kurz SEND. Das ist gewissermaßen die Interessensvertretung des Sozialunternehmertums in Deutschland. Hier kommen wirtschaftlich agierende Unternehmen zusammen, die aber nicht Gewinn, sondern soziale Wirkung und die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen anstreben. SEND wolle nicht weniger als dabei zu helfen, dass Deutschland „bahnrechende, systemische Lösungen für gesamtgesellschaftliche Probleme“ finde, sagt Sabrina. Aber während es für technologische Lösungen viel Unterstützung und noch mehr Geld gebe, blieben gerade soziale und gesellschaftliche Innovationen in technologischen und nicht-technologischen Bereichen zu häufig unbeachtet.
Die allermeisten Sozialunternehmer:innen teilen die Überzeugung, dass es ein Umdenken braucht: „Wenn wir Probleme wie Kinder- oder Altersarmut betrachten, die Integration geflüchteter Menschen oder die Digitalisierung im Bildungswesen, dann erkennen wir ganz schnell, dass wir das mit den alten, rein auf Profit angelegten Werkzeugen nicht bewältigen werden. Öffentliche Förderung gibt es aber immer noch oft genau für diejenigen, die diese einsetzen. Viele Sozialunternehmen haben neue und bessere Ideen, können die Arbeit aber ohne mehr Unterstützung nicht stemmen.“ Sabrina träumt deshalb von vielen Veränderungen. Neue Gründungs- und Finanzierungsprogramme für Social Start-Ups, Erleichterungen für Neugründungen, mehr Sichtbarkeit und Vernetzung der Sozialunternehmer:innen.
Kollaboration statt immer mehr Innovation
Dass die dringend gebraucht werden, erlebt Sabrina gerade im eigenen Arbeitsbereich intensiver denn je. Eigentlich soll das Engagement von Kiron primär geflüchteten Menschen zugute kommen. Nun aber erlebt die Berlinerin einmal mehr, dass selbst im eigenen, eigentlich so fortschrittlichen Land Hilfe gebraucht wird, wenn es um die Digitalisierung von Bildung geht. „Corona hat an vielen Stellen offen gelegt, dass es hier ganz viel Nachholbedarf gibt. Zwar gibt es Schulen, die wirklich vorbildlich sind, wenn es um digitales Lernen geht. Wir haben aber auch gesehen, dass sich ganze Schultage oder stundenlange Seminare nicht einfach so ins Digitale verpflanzen lassen. Das funktioniert nicht – passiert aber einfach noch zu oft. Insgesamt brauchen wir mehr “digital literacy” der Entscheider:innen, um gute Lösungen richtig zu implementieren.“
Kiron habe viel Erfahrung bei der Erstellung und Entwicklung von digitalen Lern- und Lehrangeboten. Deshalb haben sie in den vergangenen Monaten den Collective Impact Campus und verschiedene Tools zur Verfügung gestellt, damit davon auch Lehrende und Lernende in Deutschland sowie NGOs weltweit davon profitieren können. Der Collective Impact Campus ermöglicht es NGOs, ihr Angebot ohne großes technisches Know-How zu digitalisieren. So können sie es Geflüchteten anzubieten, mit denen sie aufgrund von Corona sonst nicht zusammenarbeiten könnten. Dabei geht es Sabrina nicht um unendlich viele Innovationen. „Es gibt in diesem Bereich schon ganz viel, das ganz hervorragend funktioniert. Das müssen wir größer machen und über die entscheidende Schwelle heben – und nicht immer wieder das Rad neu erfinden.“
Damit das gelinge, brauche es jede Menge Sichtbarmachung und Vernetzung. Eben genau das, was SEND sich auf die Fahnen geschrieben habe. Es gibt also genug zu tun für Sabrina, wider Erwarten auch und gerade in ihrer Heimat. Ihre Familie jedenfalls, so sagt sie lachend, freue sich sehr über diese unverhoffte Entwicklung.
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