Viele Menschen hetzen durch ihren digitalen Alltag und befinden sich am Rand der psychischen Überlastung. „Wir sitzen alle viel zu viele Stunden ausschnitthaft vor diesem Rechner, der uns mit zahlreichen Menschen verbindet“, sagt Anja Adler, Leiterin des betterplace well:being Programms. „Es gibt erste Studienergebnisse, dass dieser intensive Augenkontakt, der zwar indirekt, aber auch vergrößert ist, uns überfordert.“ Die Digitalisierung macht unser Leben in vielen Bereichen unberechenbarer. Einfache Erklärungsmuster für die Probleme dieser vernetzten Welt gibt es kaum noch.
In einem umfangreichen Interview haben wir uns mit Anja bereits über die Relevanz von Selbstkontakt und Achtsamkeit im gemeinnützigen Sektor ausgetauscht. Denn gerade dort, wo für die „gute Sache“ gekämpft wird, ist der Umgang mit sich selbst teilweise gar nicht so nachhaltig. Hier könnt ihr das Interview lesen.
Aus Helfer:innen werden Hilfesuchende
Menschen, die sich engagieren oder im Impact-Sektor arbeiten, stehen daher vor großen Herausforderungen. „Und das erzeugt eine höhere Anspannung in ihnen“, sagt Anja Adler. Probleme im Job oder der Partnerschaft verschärfen die Situation. Wenn dann auch noch eine globale Pandemie die Welt aus den Fugen geraten lässt, kann die Psyche in Not geraten. „Gerade die Menschen, die sich für eine gesündere, nachhaltige und solidarische Zukunft einsetzen, laufen oft Gefahr, ihre eigene Gesundheit zu vernachlässigen“, schreibt das betterplace lab auf seiner Seite. Gleich mehrere Studien, die von hohen Burnout-Raten, Depressionen sowie prekären Lebensverhältnissen und Altersarmut sprechen, würden das zeigen. Ehrenamtliche, NGO-Mitarbeitende und Sozialunternehmer:innen verlieren bei den großen Herausforderungen der heutigen Zeit den Blick für sich selbst. Während sie die Welt retten laufen sie Gefahr, ihre eigene Gesundheit zu vernachlässigen.
„Wer im sozialen und nachhaltigen Bereich arbeitet, geht oft über eigene Grenzen hinaus, um die Ziele und die Menschen dahinter zu erreichen“, sagt auch Naomi Ryland (s. Foto), Co-Gründerin von tbd*, einer Karriereplattform für Menschen, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen. Über einen kurzen Zeitraum könne das gutgehen, aber wer immer im Dauerstress lebe und unter Druck stehe, fühle sich schnell ausgelaugt. „Über die Zeit haben wir gemerkt, dass ein Job mit Sinn viel mehr beinhaltet als nur Purpose, also den Sinn im klassischen Sinn.“ Zwei weitere Bestandteile seien entscheidend: Belonging und Wellbeing.
„Jeder Mensch – egal welchen Hintergrund er oder sie hat – soll im Job dazugehören, sich ganz zeigen und auf gesunde Art und Weise arbeiten können, ohne Gefahr zu laufen, auszubrennen.“ Dafür müsse sich die Arbeitswelt verändern – statt zielorientierter und immer starker Unternehmen brauche es prozessorientierte und menschenzentrierte Unternehmen. Doch was einfach klingt, ist in der Umsetzung nicht immer leicht, das weiß auch die Gründerin. „Obwohl wir viel auf unsere Mitarbeiter:innen achten und ein gesundes Arbeitsumfeld bieten, ist es auch für Menschen in unserem Team manchmal schwierig, nicht total belastet zu sein.“ Die Pandemie habe als Katalysator gewirkt und die Probleme im gesamten Social Impact Sektor verstärkt.
Resilienz stärken, Wellbeing fördern
Es müsse dringend eine systemische Lösung für den Dauerstress geschaffen werden, so die Autorin des Buchs Starting a Revolution. „Mit unserem Wellbeing Fellowship kann ein Grundstein gelegt werden, auf dem sich aufbauen lässt“, sagt sie. Das Resilienz Intensivprogramm richtet sich an Impact Professionals und Organisationen in diesem Sektor – von der Führungskraft bis hin zu Praktikant:innen. „Es geht um das Individuum und darum welchen Stressoren es – verstärkt durch die Pandemie – ausgesetzt ist. Wir wollen den Menschen Strategien an die Hand geben, wie sie mit diesen Stressoren umgehen können.“
tbd* hat das sechswöchige Online-Intensivprogramm gemeinsam mit der Psychologin Soraida Velazquez Reve konzipiert. „Soraida hat in ihrer Arbeit bereits viel Erfahrung mit Burnout-Betroffenen gesammelt. Wir wollen in unseren Workshops die gleichen Techniken und Methoden anwenden, um Menschen, die das Gefühl haben, sie könnten in Gefahr geraten, präventiv zu helfen.“ Das Programm soll die Resilienz der Teilnehmenden stärken und nachhaltig ihr Wellbeing fördern. „Oft kommen Leute zu uns, die nicht gelernt haben, Grenzen zu setzen. Die sich schwer damit tun, nein zu sagen oder persönliche Konflikte haben, die sie nicht lösen können“, sagt Naomi Ryland. „Andere vermissen die Gemeinschaft – gerade jetzt während der Pandemie, wo alle ein bisschen isoliert leben.“ Es fehle an Austausch und Empathie, an Menschen, die zuhören und unterstützen.
Safer Space in der digitalen Welt
Sich gegenseitig stärken und voneinander lernen, das sollen auch die Teilnehmenden des betterplace well:being Programms. Die fünf aufeinander aufbauenden Workshops richten sich an Menschen, die sich hauptberuflich oder ehrenamtlich engagieren. Gleich drei Betriebskrankenkassen unterstützen das Programm. Sie alle berichten, dass der Bedarf nach Unterstützung wächst. Im letzten Dezember haben die Workshops des betterplace labs erstmals stattgefunden – pandemiebedingt im digitalen Raum. Für ein interaktives Format, das darauf fußt, mit sich selbst und anderen in Beziehung zu treten, ist der Umzug in die digitale Welt eine Herausforderung. Doch der digitale Raum muss nicht per se unpersönlich sein, sagt Anja Adler. „Es kommt darauf an, wie wir uns in diesem Raum verhalten. Wir haben festgestellt, dass wir trotzdem eine vertrauensvolle Kultur – einen Safer Space – anbieten können.“
Selbstkontakt sei ein wichtiges Werkzeug und daher der Ausgangspunkt der Workshops. „Ein großer Schwerpunkt unseres Programms liegt auf dem Körper“, sagt Anja. „Wenn ich Angst und Anspannung in meinem Körper erlebe, dann reagieren bestimmte Gehirnregionen, die mich reaktiv agieren lassen.“ Dadurch würden Lösungsräume extrem eingeschränkt. Auf die eigenen Grundbedürfnisse zu achten, steht im Fokus des Workshops.
Nur wer erkennen, benennen und adressieren kann, wie es um ihn oder sie und den eigenen Körper gerade steht, kann daran etwas ändern. Und wer diese Kompetenz im Alltag anwenden möchte, braucht einen sozialen Übungsraum, wo Menschen sind, denen es ähnlich geht.
Anja Adler
„Hier können sie auch über Themen sprechen, die sie bislang im eigenen Team nicht ansprechen mochten“, hält Anja fest. „Wenn die Teilnehmenden dann merken, dass die Menschen sie verstehen, ermutigt sie das vielleicht, auch mit den eigenen Kollegen darüber zu sprechen.“ So können Konflikte gelöst und Stressfaktoren am Arbeitsplatz reduziert werden. Am Ende des Programms bekommen die Teilnehmer:innen zudem noch einen kleinen Handwerkskoffer mit Reflexionsfragen, theoretischen Modellen und konkreten Übungen mit. Werkzeuge, die den Menschen in Stresssituationen helfen sollen.
Entspannungsübungen im Team
Auch bei tbd* sollen nicht nur die akut belastenden Situationen der Teilnehmenden gelöst werden. Noch wichtiger sei ein nachhaltiger Impact, sagt Naomi Ryland. „Wir wissen ja alle, dass nicht jedes gelöste Problem für immer verschwunden ist. Im Gegenteil – diese Krisen und Konflikte kommen eigentlich immer wieder auf einen zu.“
Daher sei es wichtig, dass die Menschen den eigenen Stress erkennen, verstehen und lernen, was sie dagegen tun können. Sie erhalten Werkzeuge, auf die sie immer wieder zurückgreifen können. Und sie sollen ihr Wissen teilen, an Kollegen weiterreichen. So hat es auch Naomi Ryland nach ihrer Teilnahme an der ersten Session gemacht. „Dort habe ich viele Entspannungsübungen kennengelernt, die ich danach bei uns im Team eingeführt habe. Bevor wir mit einem Meeting starten, entspannen wir uns jetzt gemeinsam.“
Im Herbst soll das Intensivprogramm von tbd* in die nächste Runde gehen. „Der Herbstwind ist nochmal so eine Phase, wo die Menschen tendenziell wieder in alte Muster reinrutschen.“ Das Feedback aus der ersten Workshop-Reihe war so gut, dass sie inhaltlich am Programm nichts ändern wollen. Nur die Veranstaltungszeiten sollen nochmal angepasst werden. „Unsere Workshops haben bislang während der Arbeitszeit stattgefunden. Das war uns wichtig, weil die Stressoren häufig durch die Arbeit entstehen. Wenn man das dann in der Freizeit kompensieren muss, ist das irgendwie schräg.“ Doch nicht alle Teilnehmenden waren glücklich damit. „Es ist natürlich paradox, wenn man das Gefühl hat, von der Arbeit gestresst zu sein und sich dann jede Woche zwei Mal anderthalb Stunden rausnehmen muss.“ Nun soll es auch mal Veranstaltungen am frühen Morgen oder in den Abendstunden geben.
Das Programm des betterplace lab soll im Herbst erstmals in den dafür vorgesehenen Räumen in Berlin-Kreuzberg stattfinden. „Das wollen wir einfach ausprobieren, um zu wissen, was dann anders ist. Gerade funktioniert digital aber so gut, dass wir das auf jeden Fall weiterlaufen lassen werden – unabhängig davon, wie sich die pandemischen Bedingungen weiter entwickeln.“
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