Foto: Ronja Arndt
„Wie kann es sein, dass viele gemeinnützige Organisationen, die sich für Demokratie, Transparenz, Beteiligung und Vielfalt einsetzen, diese Werte im Arbeitsalltag kaum leben?“, fragt Sonja Fischbauer. Mit leuchtenden Augen und energisch gestikulierend sitzt sie im Videocall und spricht über die hohe Bedeutung von Organisationsentwicklung im Einsatz für eine bessere Welt – und darüber, wie sich das Bewusstsein dafür in ihrer Organisation immer mehr durchgesetzt hat.
Die Geschichte der Open Knowledge Foundation Deutschland (OKF) begann wie bei vielen jüngeren Organisationen: Leidenschaftliche Aktivist:innen in ihren 20ern setzen sich voller Energie für den guten Zweck ein. Dann wächst die Organisation und mit ihr wachsen die übergeordneten und strategischen Themen. Mit mittlerweile rund 40 Hauptamtlichen und einer großen Community ehrenamtlicher Hacker:innen und Aktivist:innen setzt der Verein Projekte wie FragDenStaat, den Prototype Fund oder Jugend hackt um. Im Fokus der Projekte, die manchmal bekannter sind als die OKF selbst, steht immer der Einsatz für eine Digitalisierung, die den Bedarfen des Gemeinwohls folgt.
Sonja Fischbauer arbeitet als Spezialistin für Organisationsentwicklung und Community Strategie im Team der Geschäftsführung der Open Knowledge Foundation Deutschland.
(Foto: Jason Krüger für Wikimedia)
Zirkel-Arbeit: Die OKF setzt Organisationsentwicklung auf die Agenda
2021 feierte die Organisation ihr zehnjähriges Jubiläum. Die zwei Jahre davor standen im Zeichen des Umbruchs und rückten die Organisationsentwicklung in den Mittelpunkt. Bisher hatte sich die OKF eher innerhalb der Projekte organisiert. Mit einem größeren Portfolio und einem wachsenden Team wurden immer stärker projektübergreifende Herausforderungen sichtbar. „In dieser Phase kam ich 2018 zur OKF und habe miterlebt, wie allen klar wurde, dass wir nicht zusätzlich zur inhaltlichen Projektarbeit das Dach einer wachsenden Organisation mitentwickeln können“, erinnert sich Sonja.
2019 setzten das Team und der Vorstand gemeinsam kleine Arbeitsgruppen ein, um die Metathemen anzugehen und herauszufinden, welches Profil die künftige Geschäftsführung erfüllen sollte. Die Stelle war zu der Zeit vakant. Eine der Arbeitsgruppen führte die Bewerbungsgespräche. Mit Dr. Henriette Litta, der aktuellen Geschäftsführerin, konnte die Stelle Anfang 2020 besetzt werden. „Die Akzeptanz der neuen Leitung war groß, weil der Prozess so offen war und Henriette mitgebracht hat, was wir uns als Team gewünscht haben“, erzählt Sonja.
Der Entscheidungs-Jour-Fixe
Seit 2020 sind feste Zirkel im Governance-Modell der OKF verankert. Vier bis sechs Personen pro möglichst divers besetztem Zirkel arbeiten seither alle zwei Wochen für eine Stunde an Personalentwicklung und Kommunikation. Im Sinne eines klaren Prozesses wurde zudem ein Entscheidungs-Jour-fixe eingeführt. Dieses quotierte, gewählte Gremium stimmt über die in den Zirkeln vorbereiteten Vorschläge verbindlich ab, vom Umzug in die Nextcloud bis hin zur Menstrual Leave Policy. Auch die Stelle, die Sonja heute ausfüllt, wurde hier geschaffen.
Dieser Beitrag erschien erstmalig im eBook „Wandel und Organisationsentwicklung“ unseres Schwesterprojekts openTransfer. Reinlesen lohnt sich!
Den Beitrag über neue Formen der Zusammenarbeit im Team AWO digital findet ihr auch bei uns.
Organisationsentwicklung als eigene Stelle
Die Arbeit in den Zirkeln funktioniert bis heute. Sie hat das kollektive Verständnis dafür geschärft, wie aufwendig es ist, eine Organisation zu entwickeln und dabei alle Perspektiven im Blick zu haben. Zudem trug sie dazu bei, dass die historisch sehr autarken Projekte der OKF bereit waren, Teile ihres Projekt-Overheads für die Organisationsentwicklung einzuplanen. „Ohne die vorausgegangene Arbeit in den Zirkeln wäre die Organisationsentwicklungs-Stelle nicht entstanden – zumindest nicht so organisch“, glaubt Sonja.
Ein Konflikt innerhalb der ehrenamtlichen Community setzte Ende 2020 zudem die Aushandlung von Rollen und Prozessen, des Stellenwerts und des Selbstverständnisses von Haupt- und Ehrenamt auf die Agenda. Klassische Themen der Organisationsentwicklung also. Sonja war damals maßgeblich in den Klärungsprozess mit den Ehrenamtlichen in der Community involviert. Intrinsisch motiviert dazu war sie durch ihre Freude an ehrlicher Beziehungsarbeit.
Struktur und Beziehungsarbeit als Haupberuf
Diese Erfahrungen führten 2021 zu der Idee, Organisationsentwicklung als Stelle im Team der OKF fest zu verankern. „Als der Vorschlag im Raum stand, habe ich mir die Frage gestellt: Will ich diese Art von Struktur- und Beziehungsarbeit hauptberuflich machen?“, erinnert sich Sonja, die damals das Projekt Jugend hackt leitete. Zwar war sie sofort begeistert von der angebotenen Chance. Doch ein innerer Konflikt nagte an ihr. Als langjährige Aktivistin für eine gerechte Digitalisierung fiel ihr gedanklich der Wechsel in die Struktur der Organisation zunächst nicht ganz leicht. Am Ende sagte sie zu.
„Emotional wusste ich schon immer, dass sich mein Aktivismus nach innen richtet. Aber oft tendieren wir in unserer gemeinnützigen, wirkungsorientierten Arbeit dazu, den Impact, der nach außen geht, höher zu schätzen als das, was nach innen geht. Wie viele Menschen haben wir mit der Kampagne erreicht? Wie viele Gesetzesentwürfe wurden wegen uns verändert? Diese Art von Aktivismus wird – zurecht – gefeiert. Aber“, ergänzt Sonja und ihre Stimme wird entschieden, „es gibt auch einen Aktivismus innerhalb einer Organisation, der für gerechte Strukturen sorgt, Zugehörigkeit schafft, Leute ermächtigt. Das ist mein Purpose.“
Es gibt auch einen Aktivismus innerhalb einer Organisation, der für gerechte Strukturen sorgt, Zugehörigkeit schafft, Leute ermächtigt.
Den Aktivismus nach innen richten
Sonjas Arbeit, die mit Prozess- und Kernförderungen wie mit Anteilen in den Projekten finanziert wird, zielt sowohl auf die Organisation als auch auf die Projekt-Communitys. Das passe gut, denn die Themen seien sehr verwandt, erklärt sie. „Es geht um Transparenz, Entscheidungsprozesse, Kommunikationsfragen. In der Community ist meine Aufgabe, unsere Freiwilligen in ihrem digitalen Ehrenamt strukturell zu unterstützen.“ Die Aufgaben, die ihre Stelle vereint, sind vielfältig. Sonja sorgt im Team und in den Communitys dafür, dass Themen vorangetrieben werden, sie begleitet und managt Prozesse wie etwa die Einführung der Nextcloud oder die Bestrebungen um mehr interne Diversität.
Insbesondere in der Arbeit mit den Communitys geht es darum, herauszufinden, was die ehrenamtlichen Aktivist:innen brauchen, um gut arbeiten zu können und Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Neben dem jährlichen Team-Retreat, das es inhaltlich vorzubereiten gilt, dem umfangreichen Jahresbericht mit Schwerpunkt auf Organisationsentwicklung und der Mitwirkung an Förderanträgen gehören zu ihrem Arbeitsalltag viele Slack-Nachrichten, Team-Update-Frühstücke, Einzelgespräche oder die Evaluation der Entscheidungsprozesse.
Erfolge sehen können
Sonja liebt, was sie tut, das schwingt in jedem Satz mit. Denn ihre Arbeit trägt zu mehr Zufriedenheit im Team und in den Communitys bei, Prozesse laufen flüssiger. Doch eine Schwierigkeit bringen Stellen wie ihre mit sich, sagt sie. „Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass meine Arbeit nicht immer direkt messbaren Impact erzeugt, sondern eher latent wirkt. Eine wirksame Kampagne oder ein gelungenes Event lässt sich leichter feiern, als wenn sich der Workflow verbessert hat. Aber auch solche Erfolge zu feiern ist wichtig – nicht zuletzt für meine eigene Motivation.“ Sehr hilfreich findet Sonja immer wieder den Austausch mit anderen, die sich mit Organisationsentwicklung in der Zivilgesellschaft beschäftigen. Vielleicht ist das auch ihr Appell: Aktivist:innen nach innen, vereinigt euch!
Weiterführende Links
Open Knowledge Foundation Deutschland
Session Digital Social Summit: „Kleiner Verein, komplexe Organisation: Neues Governance-Modell?“