Soziales im Digitalen. Teil 1: So ticken wir.

Skype, Zoom, Miro-Board: Nach zweieinhalb Monaten Home-Office haben die meisten Menschen technische Tools gut drauf. Tools sind nur die halbe Miete, meint unser Autor Michael Metzger. Er ist sich sicher: Wir müssen soziale Wärme und Herzlichkeit in digitale Räume bringen. Nur so kann die Menschheit die Corona-Herausforderungen bewältigen – und gleichzeitig unser Erfolgsrezept der Evolution bewahren.

Foto zeigt einen jungen Mann im Halbprofil, der vor einem Laptop und einem zweiten Bildschirm im Schein einer Schreibtischlampe arbeitet.

Der aussichtsreichste Kandidat zum Unwort des Jahres ist wohl “Social Distancing”. Der Begriff ist nicht nur faktisch irreführend. Es ging bei den 1,5 Metern Abstand niemals um soziale, sondern um physische Distanz, also um das Abstand halten. Soziale Distanz wäre genau das Falsche, um eine Herausforderung wie die Corona-Krise zu bewerkstelligen. Die Menschheit tut gut darin, angesichts der globalen Pandemie näher zusammenzurücken und mit crowd intelligence, crowd empathy und crowd kindness gemeinschaftlich gegen das Virus vorzugehen. Evolutionär war das schon immer unser Erfolgsrezept.

Altmodischer PC mit W-LAN

Besonders stark ist ein einzelner Mensch nie gewesen: Gegen einen Tiger, einen Elefanten, ja selbst gegen einen wildgewordenen Schimpansen verlieren wir jeden Kampf. Und, auch da brauchen wir uns nichts vorzumachen: Besonders schlau ist ein einzelner Mensch ebenfalls nicht. Ein Neandertaler hat einen Homo Sapiens sowohl an Körperkraft als auch an Intelligenz übertroffen – und dennoch hat die Menschheit über den Neandertaler gesiegt. Warum, das beschreibt der Historiker Rutger Bregmann in seinem augenöffnenden Buch “Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit” folgendermaßen:

 “Wenn Neandertaler ein rasend schneller Computer waren, dann waren wir ein altmodischer PC – aber mit WLAN. Wir waren dümmer, aber besser miteinander vernetzt.” 

Der Homo sapiens lebte in größeren Gruppen als der Neandertaler, wechselte diese Gruppen häufiger und konnte deshalb besser Dinge abschauen. 

Lachen ist ansteckend

Der Mensch ist auf Kooperation mit seinen Artgenossen ausgelegt: Von allen Lebewesen sind wir die einzigen, die einen großen Weißraum in den Augen haben, so dass wir die Blickrichtung unserer Mitmenschen nachvollziehen können. Der große Augenbrauenbogen am menschlichen Schädel hat sich zurückentwickelt zugunsten beweglicher Augenbrauen, die uns eine viel differenziertere Mimik ermöglichen. Deutet eine Person auf etwas, weiß die andere Person oft sofort, um welches Objekt es geht – auch wenn sie in einem völlig anderen Winkel dazu steht. 

Und mehr: Muss ein anderer Mensch weinen, werden wir ebenfalls traurig. Lachen ist ansteckend, Gähnen auch. Menschen lieben es, sich ineinander hineinzuversetzen und mit anderen Menschen zu fühlen – unsere gesamte Unterhaltungsindustrie ist auf dieser Tatsache aufgebaut. Und tun wir etwas Falsches, werden wir rot, ob wir wollen oder nicht, denn es ist uns peinlich, und unsere Mitmenschen sollen das merken. 

Empathie erzeugt soziale Wärme, und die ist die Grundlage für Kooperationen. Wenn Menschen gemeinsam etwas auf die Beine stellen und die Kooperation auf Vertrauen basiert, dann wird im Gehirn das Hormon Oxytocin ausgeschüttet. Der Name bedeutet »schnelle Geburt«, weil Oxytocin Wehen einleitet und hilft, den Milcheinschuss in Gang zu bringen. Als Botenstoff im Gehirn beeinflusst es aber auch das Fühlen und Handeln, es vermindert Angst und führt zu mehr Offenheit. Wer Vertrauen erfährt, dem fällt es selbst leichter, zu vertrauen. 

Einer für alle, alle für einen

Das erhabene Gefühl, das Menschen in großen Mengen verspüren, wenn sie gemeinsam singen, eine Fußballmannschaft anfeuern oder fremde Menschen zu Silvester umarmen, ist ein Resultat nicht nur von Alkoholeinfluss, sondern auch von Vertrauens-Oxytocin. Deshalb fühlen Menschen sich gut, wenn sie gemeinsam mit anderen Großes erreicht haben: Die gemeinschaftliche Ernte von tausenden Kilogramm Kartoffeln. Die gemeinsame Organisation eines Festivals. Oder die Entwicklung von Lösungen gegen die Corona-Krise: Die 27.000 Teilnehmer:innen von #wirvsvirus, dem Weltrekord-Hackathon der Bundesregierung, dürften bei ihrer Online-Abschlussparty eine gehörige Gänsehaut bekommen haben – einer für alle, alle für einen. Auch das wäre ohne Oxytocin wohl kaum denkbar gewesen. 

Ein gemeinsames Ziel vor Augen

Wir Menschen sind soziale Wesen. In der Gruppe fühlen wir uns am Wohlsten. Und wenn wir ein klares Ziel vor Augen haben und einen gemeinsamen Gegner, dann braucht es gar nicht mehr viel Gamification, damit wir zu wahren Höchstleistungen auflaufen. Der demokratische Westen hat es unter der Führung Amerikas nur deshalb so schnell geschafft, ein Raumschiff zum Mond zu schicken, weil wir schneller sein wollten als die Russen. Doof, dass Menschen sich meist andere Menschen als Gegner suchen. Würden wir alle gemeinsam miteinander an einem Strang ziehen, könnten wir extrem gut darin sein, externe Gefahren zu bekämpfen. Die Klimakrise ist so ein externer Gegner. Das Corona-Virus auch.

Soziale Wärme in Digitalen Räumen

Wie aber kann Empathie, Soziale Wärme und Kollaboration ermöglicht werden, wenn Physical Distancing nicht mehr erlaubt, dass wir uns nahe kommen? In Digitalen Räumen können wir uns nicht umarmen und trösten. Die Pupillen in den Augen des Gegenübers erkennen wir nicht immer sofort, und manchmal nur zeitversetzt, weil das Bild mal kurz eingefroren ist. Ob jemand rot wird oder nicht, kann man in Zoom- und Skype-Calls schwer deuten.

Im Digitalen fällt es schwerer, gemeinsam Erfolge zu feiern. Mit Bier anstoßen, gemeinsam am Lagerfeuer liegen und in die Sterne schauen ist auch nicht drin. Das bedeutet aber nicht, dass Digitale Räume kalt bleiben müssen. Soziale Wärme muss im Digitalen anders gedacht und neu ermöglicht werden. Nur dann schaffen wir es in Zeiten von Corona, das zu erhalten, was uns Menschen ausmacht. Nur dann schaffen wir es, Corona zu besiegen – alle gemeinsam. Und danach ist der Klimawandel dran. 

Und so geht es weiter

In Teil 2 unserer Serie geht es um kleine Hacks und Tipps für mehr Spaß und Miteinander auch im digitalen Raum – und auch Teil drei und vier halten neue Denkanstöße und gute Beispiele für euch bereit. Bleibt dran – und für einander da.

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Ein Gedanke zu “Soziales im Digitalen. Teil 1: So ticken wir.

  1. Nicht jeder ist Empathie-fähig! Und Gamification hat auch wenig damit zu tun; das ist ein Belohnungssystem, das diejenigen einfängt, die auf Bestätigung von außen angewiesen sind, also keinen ausreichenden Kontakt zu sich selbst haben.

    „Das erhabene Gefühl, das Menschen in großen Mengen verspüren, wenn sie gemeinsam singen, eine Fußballmannschaft anfeuern oder fremde Menschen zu Silvester umarmen, ist ein Resultat nicht nur von Alkoholeinfluss, sondern auch von Vertrauens-Oxytocin.“ Auch dabei geht es um Bestätigung von außen, die nicht zwangsläufig mit Vertrauen verbunden sein muss. Gerade die Unsicheren schwingen sich emotional auf andere Gleichgesinnte ein ohne wirkliche Vertrauen oder Selbstvertrauen zu spüren oder zu besitzen!

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