Vorteil Land? Wie engagierte Dörfer die Corona-Zeit erleben

Vor allem seit Mitte März wird oft der „Vorteil Land“ beschworen: Hohe Lebensqualität auch im durch die Corona-Pandemie bestimmten Alltag. Gleichzeitig hält sich in vielen Köpfen hartnäckig ein Klischee von Dorfmenschen als digitalen Hinterwäldler:innen – einer Vielzahl von Organisationen, Projekten und Personen, die sich dem digitalen Wandel auf dem Land annehmen zum Trotz. Wie sieht es dort nach sechs Monaten unter Corona-Bedingungen aus?

Ein Dorfplatz, im Hintergrund Berge, auf einer Mauer sitzt eine Frau am Laptop.

Die Aufmerksamkeit für ländliche Räume steigt seit einiger Zeit stetig an. In Diskussionen um Wohnkosten, Daseinsvorsorge, Engagement, gleichwertige Lebensverhältnisse – um nur einige Themen zu nennen – nehmen die Belange strukturschwacher Regionen einen immer größeren Teil ein. Vor allem seit Mitte März wird oft der „Vorteil Land“ beschworen: Hohe Lebensqualität auch im durch die Corona-Pandemie bestimmten Alltag.

Corona mit seinen Cousins Kontaktbeschränkung, Homeschooling und Homeoffice hat vielerorts wie ein Brandbeschleuniger der Digitalisierung gewirkt. Zusammenarbeit auf Distanz ist plötzlich an vielen Stellen selbstverständlich, wo sie vorher kaum denkbar war. Wir haben neue Tools und Methoden ausprobiert, uns an neue Abläufe gewöhnt und es vielleicht auch genossen, nicht mehr jeden Tag ins Büro zu müssen.

Deshalb ist es höchste Zeit, nachzufragen: Was hat sich seit dem Frühjahr auf dem Land getan? Gilt der „Vorteil Land!“ auch in der Pandemie? Ich will herausfinden, was gut funktioniert hat, was weiter verfolgt wird, aber auch, was gefehlt oder nicht geklappt hat. Und vor allem: Wie geht es jetzt weiter?

Stop and Go

„Corona hat bei uns die Dynamik schon deutlich ausgebremst“, meint Heidrun Wuttke. Sie leitet das Projekt Dorf.Zukunft.Digital, das 30 Dörfer im Landkreis Höxter (NRW) fit für die digital vernetzte Zukunft macht. Konkret bedeutet das, gemeinsam mit den Dorfbewohner:innen digitale Lösungen zu entwickeln und zu erproben, die Teilhabe, Daseinsvorsorge und Nachbarschafthilfe, aber auch Engagement und das dörfliche Miteinander stärken: Zum Beispiel durch die DorfFunk-App, die das Gespräch über den Gartenzaun ergänzt bzw. aufs Smartphone trägt, durch Schulungen zu Themen wie Social Media-Kommunikation, Datensicherheit und neues Ehrenamt oder Lernecken mit IT-Equipment in den Bürgerhäusern.

Mehr zum Vorgängerprojekt Smart Countryside Höxter gibt’s im Video.

Nach dem Projektstart der zweiten Phase Ende 2019 begannen ab März 2020 Ortsbegehungen in den teilnehmenden Dörfern, um Orte und Akteur:innen kennenzulernen, Bedarfe zu erfragen und das Projekt näher vorzustellen. Einige Dörfer waren schon dran, dann mussten aufgrund von Corona die Besuche sehr plötzlich pausiert werden. „Der Besuch ist für uns und für die Teilnehmenden ein wichtiger Bonding-Moment, der jetzt für einige Dörfer erstmal flachgefallen ist. Das war wirklich schade. Dazu kam die Ungewissheit, wann und wie es weitergehen kann – das auszuhalten ist schon schwer.“

Auch andere Präsenzveranstaltungen, wie eine sechsteilige WordPress-Schulung, mussten durch die gesundheitlichen Auflagen ausfallen. Auch das erschien unter den sozialen Aspekten des Projekts zunächst als Nachteil, da diese Termine Anlass sind, Teilnehmende aus anderen Dörfern zu treffen und zu netzwerken. Im Gegensatz zu den Dorfbesuchen konnte für dieses Seminar jedoch eine digitale Alternative angeboten werden: So fanden die ersten drei Termine als Onlineseminar statt, drei weitere konnten unter Einhaltung von Abstandsgebot, Maskenpflicht etc. wieder als Präsenzveranstaltung durchgeführt werden.

Bei den Engagierten kam diese Lösung sehr gut an, nicht zuletzt, weil die Seminare aufgezeichnet wurden und nun über die VHS-Cloud jederzeit für alle teilnehmenden Dörfer zugänglich sind. Ein Zukunftsmodell?

An einem Holzzaun hängt ein Banner mit der Aufschrift bremke.digital und einem QR Code
Bild: Stiftung Digitale Chancen

Corona-Rückenwind in Bremke und Höxter

Für Carola Croll von bremke.digital war es umgekehrt – auch wenn sie ebenfalls berichten kann, wie schmerzhaft es war, für bestimmte Projektschritte nicht vor Ort sein zu können. Für bremke.digital war Corona keine Vollbremsung, sondern bewirkte eher einen Satz nach vorn: „Das einzige, was wir machen konnten, war, mit der Dorffunk-App früher zu starten“, lacht sie.

Vor einem Bildschirm sieht man ine Hand, die ein Smartphone hölt, darauf sieht man den Dorffunk von den Digitalen Dörfern

Während der Corona-Zeit wurde die Plattform der Digitalen Dörfer, zu deren Bestandteilen auch der DorfFunk gehört, vom Fraunhofer IESE in weiteren Bundesländern freigeschaltet. Neben Rheinland-Pfalz, NRW und Niedersachsen wird sie jetzt auch in Bayern, Sachsen, in Hessen, Schleswig-Holstein, im Saarland und sogar im Österreichischen Burgenland eingesetzt.

Bild: Sabine Eidam

Eigentlich sollte der Bremker DorfFunk im April starten. Aber im März wurde schnell deutlich, dass angesichts der sich ausbreitenden Corona-Pandemie digitale Kontakte unterstützen und helfen können, wenn Treffen oder Veranstaltungen abgesagt sind, kein Osterfeuer stattfinden kann und auch Besuche unter Freund:innen kaum noch möglich sind. Binnen einer Woche wurde die App an den Start gebracht und konnte direkt Wirkung zeigen: Dorfbezogene Alltagskontakte und Nachbarschaftshilfe wurden nun zumindest digital möglich.

Zum Beispiel: Eine werdende Mutter, die aufgrund der Einschränkungen keine (Floh-)Märkte besuchen konnte, um die Erstausstattung für ihr Baby zu kaufen. Sie postete eine Anfrage im DorfFunk und hatte innerhalb von zwei Tagen alles zusammen. Oder Kinder und Jugendliche, die trotz Kontaktbeschränkung weiter Fußball-Sammelbilder vergleichen und tauschen konnten.

Trotz physischer Distanz konnte so eine große soziale Nähe erhalten bleiben. Ein positiver Nebeneffekt: Amtliche Veröffentlichungen erreichten sehr viel schneller die Bürger:innen: „Unsere Oberbürgermeisterin fand das auch großartig, weil sie alle Corona-Bestimmungen direkt innerhalb von Minuten hochladen konnte“, so Carola.

Die digitale Plattform des DorfFunks ist auch in Höxter im Einsatz, und hat dort bislang sehr gut funktioniert. Der Landrat konnte neue Verordnungen als Informationen direkt in der App freischalten und für auch die Dorfbewohner:innen war es gut, mit einem Blick aufs Smartphone zu wissen: „Ok, heute ist die Klönstube zu, das Pfarrheim auch, aber der Gottesdienst findet statt.“

„Und mit der App erreicht das wirklich alle – zu Hause, aber auch Leute, die auf Reisen festsaßen. Alle wissen sofort, was im Dorf los ist. Das sind nicht mehr diese geschlossenen Gruppen wie auf WhatsApp, auch deshalb wollten wir davon weg,“ erzählt Heidrun.

Gute Ideen weitertragen

Beide Projekte haben gemeinsam, dass sie sich vor Anfragen kaum retten können: So viele – nicht nur benachbarte – Dörfer wollen die Konzepte übernehmen. Bremke.digital sollte in der vierten Projektphase ab Juli 2020 auf alle 16 Dörfer der Gemeinde Gleichen (zu denen auch Bremke gehört) ausgeweitet werden, doch befürwortende Stimmen wurden schon deutlich früher laut. Auch im Kreis Höxter gibt es diverse Anfragen, so ist Heidrun z.B. im Kontakt dem Landkreis Uckermark und dem Hochsauerlandkreis, die die Konzepte für sich übernehmen und anpassen wollen.

Digitale Angebote? Machen wir selber!

Und wie sieht es in Dörfern aus, die nicht im Rahmen von großen Programmen digitale Lösungen in den ländlichen Raum bringen?
Frank Schütz, der ehrenamtliche Bürgermeister von Golzow in der Uckermark, gibt sich zuerst bescheiden: „Außer WhatsApp-Gruppen gab es bei uns eigentlich nichts in Richtung Digitales.“ Zu Beginn der Pandemie beobachtete er, wie viele Dorfbewohner:innen, gerade auch ältere und vielleicht bisher nicht so technikaffine Personen, verstärkt per Messenger kommunizierten – individuell und in Gruppenchats.

Golzow kommt laut Frank gesellschaftlich insgesamt sehr gut durch die Corona-Zeit. „Finanziell wird das schon Auswirkungen haben, das ist klar. Aber was das unmittelbare Miteinander im Dorf angeht, läuft es in Golzow sehr gut. Ganz klar, Vorteil Land!“ lacht Frank. „Wir können uns hier einfach ganz anders bewegen als die Städter. Fast alle haben einen Garten, hier wohnen nicht so viele Leute… Das hat gerade jetzt natürlich riesige Vorteile.“

Den Schwung wieder aufnehmen

Aber was machen die Vereine, wenn sie nicht mehr dem Regelbetrieb nachgehen können? Hier zeigen die Beschränkungen der letzten Zeit auch eine deutliche Wirkung: „Meine Vereinsvorsitzenden haben mir schon im April gesagt: Sie haben Sorge, dass ihre Mitglieder das Interesse an der Vereinsarbeit verlieren und sich fragen, ob sie ihnen die Treue halten. Wir sehen schon, dass wir deutlich mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen, um sie wieder für ihr Engagement ‚wachzurütteln‘. Ich hätte nicht gedacht, dass es da so schnell einen Rückzug und Stillstand gibt.“

Aber auch in der Vereinsarbeit konnten durch digitale Alternativen zumindest Impulse gesetzt werden: Mit dem Trägerverein des Golzower Filmmuseums (gegründet in Folge der bekannten DEFA-Langzeitreportage „Die Kinder von Golzow„) wurde kurzfristig entschieden, am bundesweiten Museumstag digitale Führungen über Zoom anzubieten. Frank war mittendrin „Eine Mitarbeiterin des Museums hat mir eine Führung gegeben – ich hab das alles mit dem Handy gefilmt und in Zoom übertragen. Dort konnten sich Leute dazuschalten. Wir haben das am Donnerstag entschieden und kommuniziert und Samstag ging es schon los. Dafür waren die Zuschauerzahlen sehr gut. Das bietet auch für später noch einmal einen anderen Zugang zum Museum.“

Auch Heidrun muss die Engagierten in Höxter teils wieder wachrütteln. Jetzt, wo langsam alle Fäden wieder aufgenommen werden, sieht sie, dass sich in einigen Dörfern etwas verändert hat. Die Maßnahmen zum Schutz vor Corona werden zum Glück sehr ernst genommen und umgesetzt, gerade, wenn im Ort viele Menschen leben, die zu einer Risikogruppe gehören. Das heißt aber auch: Öffentliche Orte des sozialen Miteinanders wurden geschlossen, es gab einen bemerkbaren Rückzug ins Private. „Insgesamt merke ich, dass ich deutlich mehr Aufwand betreiben muss, um wieder Schwung ins Projekt zu bringen. Jetzt wird im September erstmal das Equipment für die Medienecken und digitalen Klassenzimmer in den Bürgerhäusern ausgeliefert, persönliche Begegnungen, Netzwerktreffen und Dorfbesuche sind derzeit ja wieder möglich.“

Auch in Bremke geht man die nächsten Schritte: Die DorfFunk-App bekommt neue Funktionen, z.B. einen Terminplaner. An zentralen Punkten im Dorf werden Digitale Schaukästen aufgestellt, die die wichtigsten Dorfnews zeigen, außerdem steht der Projekttransfer in weitere Dörfer der Gemeinde Gleichen bevor.

Es geht weiter – hoffentlich mit viel Schwung.

Mehr über Digitale Dörfer gibt es hier

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