Mapstories: Karten, die vom Leben erzählen

Mit dem OpenSource-Tool Mapstories will der gemeinnützige Verein Vamos globale Themen im Alltag von jungen Menschen in Deutschland sichtbar machen. Die Schülerinnen und Schüler erkunden interaktive Lernwelten, gestalten sie mit und werden so selbst zu Macher:innen ihres Wissens.

Foto eines jungen, der an einem Bildschirm auf der mapstories Oberfläche navigiert.

Foto: vamos e.V.

Auf dem Bildschirm erscheinen Fahrradrikschas auf einer staubigen Straße. Ein blau-weißer, angerosteter Bus ist zu sehen, bröckelnder Putz an bunten Ladenfassaden, Wellblechdächer, Plastikmüll. Die Google Street View-Ansicht auf die Mojibur Rahman Road in der indischen Megametropole Dhaka ist gestochen scharf. Auf einer Weltkarte links daneben ist der Standort der Straße markiert. Ein kleiner roter Punkt, der zusammen mit vielen anderen eine Geschichte erzählt – die erste von mehreren Mapstories von Vamos e.V.

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Der gemeinnützige Verein Vamos hat zusammen mit Münsteraner Schüler:innen die Mapstory „Der Stoff, aus dem die Träume sind“ erstellt – eine virtuelle und interaktive Reise zu verschiedenen Standorten der globalen Textilindustrie, die auf einer Weltkarte markiert sind. Wer sich durch die Mapstory klickt, reist nach Indien, Bangladesch oder nach Äthiopien, erhält Einblicke in die Lebenswelt der Textilarbeiter:innen, Baumwollproduzent:innen oder auch Designer:innen, wechselt die Perspektive.

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„So werden globale Zusammenhänge, Prozesse und Lieferketten sichtbar und interaktiv erfahrbar“

sagt Tore Süßenguth, 37, Bildungs- und Kampagnenreferent beim Vamos e.V. Die interaktive Story soll Jugendliche an Schulen, in Vereinen oder Bildungsprojekten niedrigschwellig an das Thema heranführen, erste Einblicke geben und durch das Netz verschiedenster Protagonisten des weltweiten Textilmarkts navigieren.

Neben der Karte beleuchten Fotos, Videos, Podcasts, Instagram-Posts, Tweets oder eben auch eine Ansicht in Google Street View das Thema von verschiedenen Seiten. So entsteht Nähe zwischen den Jugendlichen in Deutschland und den Menschen in fernen Ländern, auch wenn Welten dazwischen liegen. „Die Jugendlichen lernen und verstehen, wie sie beispielsweise als Käufer:in eines T-Shirts mit dem Leben der Näher:in oder Garnproduzent:in zusammenhängen“, erklärt Tore Süßenguth. Immer wieder werden Reflexionsfragen oder Aufgaben gestellt, die alleine oder in der Gruppe diskutiert und bearbeitet werden können. Die Schüler:innen selbst seien Macher:innen ihres Wissens. „Sie konsumieren nicht nur, sondern gestalten auch aktiv mit, indem sie beispielsweise den Wohnort der Näherin in der Google Street View erkunden.“  

Eine Weltkarte und ihre Geschichte

Portrait von Tore Süßenguth vor einem vamos-Roll-up.

Grundlage der crossmedialen Story ist das webbasierte Open Source-Tool Mapstories. In wenigen Schritten lassen sich mit dem kostenlosen Tool Geschichten rund um die Welt erzählen und mithilfe verschiedener Stationen auf einer Karte veranschaulichen. Besonders gut eignen sich Mapstories für Geschichten über Handelsrouten, Migrationswege oder auch globale Lieferketten, die an verschiedenen Orten auf der Welt spielen. Doch woher kam die Idee zu Mapstories? „Schon vor Corona haben wir im Verein beschlossen, Bildungsangebote in den digitalen Raum zu bringen“, sagt Tore Süßenguth. Corona habe den Prozess dann beschleunigt.

„Die Plattform gab es in ähnlicher Form schon für den englischsprachigen Raum.“ Der Verein hat sie dann zusammen mit dem Startup re:edu übersetzt und weiterentwickelt. „Wir wollten einfache Zugänge und wenig Schnickschnack, damit es im Schulalltag leicht nutzbar ist.“ Parallel zur Arbeit an der Plattform organisierte der Verein das ko-kreative Lab an der Münsteraner Gesamtschule. Das Ziel: Innerhalb eines halben Jahres sollten die Schülerinnen und Schüler ein digitales Einstiegsmodul zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit mithilfe der Plattform Mapstories entwickeln.

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„Wir brauchten die jungen Menschen als Expert:innen mit ihrer Sprache, ihrer Mediennutzung, ihren Ideen“

sagt Tore Süßenguth, „schließlich sollte das Tool aus Jugendperspektive weder zu komplex noch langweilig werden.“ Die Schüler:innen konnten die Betaversion austesten, sich durchklicken und Vorbesserungsvorschläge machen. Entstanden ist das digitale Einstiegsmodul „Der Stoff, aus dem die Träume sind“. Die fünf crossmedialen Stories zeigen, welche Auswirkungen die globalen Strukturen der Bekleidungsindustrie auf Mensch und Umwelt, und wie nah Träume und Alpträume beieinander liegen können.

Mapstories: Interaktives Storytelling von Jugendlichen für Jugendliche

Doch der Weg zur fertigen Mapstory kann durchaus steinig sein. „Jede Geschichte braucht einen roten Faden“, sagt Tore Süßenguth, „den nicht zu verlieren, ist nicht immer leicht. Bei der Arbeit mit den Jugendlichen haben wir gemerkt: Je weniger Quellen wir vorgeben, desto herausfordernder war es für sie.“ Die technischen Hürden sind hingegen gering. Die Grundlage jeder Mapstory bildet eine Karte, die genau wie das Layout frei gewählt werden kann. Für jeden neuen Schauplatz kann eine neue Folie hinzugefügt und auf der Karte markiert werden.

Alternativ zur Karte kann auch ein hochaufgelöstes Bild oder eine historische Karte als Basis verwendet werden. Die Handhabung ist immer gleich. Sie erinnert ein bisschen an eine Power Point-Präsentation – nur mit deutlich mehr digitalen und interaktiven Features, die eingebettet werden können. Maximal zwanzig Stationen hat eine Story, sonst wird es zu unübersichtlich. Doch auch hier gilt: Die Stationen müssen mit einander verflochten sein – kein roter Faden, keine Geschichte. 

Plötzlich Digital-Die Sprechstunde Grafik

Das Tool klingt interessant für eure eigene Arbeit? In Episode #41 von Plötzlich digital. Die Sprechstunde zeigt uns Tore Süßenguth von Vamos e.V. das Open Source Storytelling-Tool Mapstories. Jetzt anmelden und am 6. April um 13 Uhr kostenlos dabei sein!

Das Konzept des digitalen Einstiegsmoduls, das die Münsteraner Schülerinnen und Schüler zusammen mit dem Verein entwickelt haben, ging am Ende auf. Sie überzeugte sogar die Jury des NRW-Medienpreises für entwicklungspolitisches Engagement 2021: Sie landeten einen Überraschungserfolg und gewannen mit ihrer Mapstory zur globalen Textilindustrie den dritten Platz. „Wir hatten zu dem Zeitpunkt noch keine Reichweite“, sagt Tore Süßenguth. „Der ersten Platz hatte sieben Millionen Klicks und wir hatten gerade mal ein paar tausend Aufrufe.“ Trotzdem konnten sie überzeugen. „Vor allem das Crossmediale wurde in der Laudatio gelobt.“

Nun will der Verein die Plattform nach außen tragen, die Reichweite erhöhen und das Tool bekannt machen. Nutzen kann es jeder – einfach anmelden und loslegen. „Die Nutzung ist browserbasiert und funktioniert so gut wie überall.“ Die Story kann nach und nach weiterentwickelt und auch an Freunde auf der ganzen Welt per Link verschickt werden. Öffentlich einsehbar sind privat erstellte Stories nicht. „Wir empfehlen das Tool für Jugendliche ab 13 Jahren“, sagt Tore Süßenguth. Auch für die ältere Generation sei es in seiner Einfachheit gut nutzbar – ob als Macher:in einer eigenen Story oder auch als Nutzer:in der bereits erstellten Stories.

Foto: vamos e.V.

Kooperatives und exploratives Lernen

Gerade erst ist ein zweites vom Verein initiiertes Mapstories-Modul mit vier interaktiven Stories online gegangen. Es ist erneut über mehrere Monate in einem ko-kreativen Lab mit Schüler:innen entstanden. „Es finden sich viele Perspektiven der Jugendlichen in Form von Audio-Inputs wieder“, sagt Tore Süßenguth. In den Stories werden beispielsweise die Produktionsbedingungen von Smartphones und Fleischwaren erkundet und die Auswirkungen von Massenkonsum auf Mensch, Umwelt und das Miteinander thematisiert. „Wenn sich Jugendliche in der Schule oder auch in außerschulischen Initiativen mit dem Thema Konsumwandel beschäftigen, ist das Modul ein toller Einstieg.“

Gerne würde der Verein Schulungen und Workshops zu der Plattform für Multiplikator:innen anbieten, doch noch fehlt es an Zeit und Geld. „Wir entwickeln gerade eine Art Startup-Businesskonzept, damit wir das Projekt auf eigene Füße stellen können.“ Noch finanziert sich die Plattform aus Geldern, die von der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen und über ein Förderprogramm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit in das Projekt fließen. „Aber die Förderung endet Ende März. Wir müssen jetzt einen neuen Antrag stellen, um das Ganze wirklich in der Breite nutzen zu können“, sagt Tore Süßenguth. Noch bezeichnet er die Plattform als „Rohdiamanten“. Doch schon bald könnte sie vielen Menschen als digitaler Lernraum neue Lebenswelten eröffnen.

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