Die Zivilgesellschaft in der Corona-Krise: Organisationsgestaltung und Führungskultur

Die Corona-Krise brachte für viele soziale Organisationen ein nie gekanntes Maß an Veränderungsdruck. Eines der Schlaglichter unseres jüngst erschienenen API-Reports liegt auf der Organisationsgestaltung und Führungskultur im Dritten Sektor. Wie hat sich Führung während und nach der Pandemie verändert – und welche leadership-Modelle haben sich als besonders krisen- und zukunftstauglich erwiesen? Das ganze Kapitel gibt’s hier als Beitrag.

Foto von einer Gruppe von Menschen, die auf einer Hügelspitze stehen.

Wer sich auf die digitale Suche nach Einsichten zum Thema Organisationsführung und Leadership in Coronazeiten macht, steigt in ein Universum aus buntfarbigen Analysen und Erfahrungsberichten ein. Man findet kaum eine Unternehmensberatung, kaum eine Agentur für Organisationsentwicklung, die nichts zum Thema beiträgt.

Wenig lässt sich allerdings über die spezifischen Kontexte von Non-Profit Organisationen lesen. Dabei wäre ein Blick in ihre Richtung umso spannender. Die organisierte Zivilgesellschaft bringt mit ihrer Mischung aus Haupt- und Ehrenamt, mit vielfachen externen Abhängigkeiten, einer stärkeren Einbindung von Zielgruppen als Stakeholdern und mehrschichtigen Vereins- und Verbandsstrukturen eine besondere organisatorische Komplexität mit. Dazu hat der Sektor hohe Ansprüche an Werteorientierung, Teilhabe und dezentrale Autonomie, die sinnstiftend und wertvoll, in der Praxis jedoch schon ohne Krisenkontext oft herausfordernd zu leben sind und voller Zielkonflikte stecken. Ein beispielhafter Blick auf die Organisationsstruktur des Deutschen Roten Kreuzes genügt, um die Idee einer zentralen Steuerung von oben durch einen Zirkel inspirierender Führungskräfte zu den Akten zu legen. Es wäre ein Verlust, dies als Schwäche zu begreifen.

Gerade die besondere Mischung aus gesellschaftlicher Verantwortung, hohem Vernetzungsgrad und demokratischem Fundament macht die Zivilgesellschaft zum idealen Lackmus-Testfeld für systemisch eingebettete, zukunftstaugliche Organisationsgestaltung und Führungskultur.

Nicht umsonst sind viele Vorreiter:innen agiler, menschenzentrierter Führungsansätze in Deutschland und der Welt im Dritten Sektor beheimatet. Nicht umsonst schreiben neue, komplexe Engagementorganisationen wie Fridays for Future ihre Governance nicht einfach aus dem Management-Lehrbuch ab, sondern suchen nach Lösungen, die ihren Werten und ihrer Wirkungsorientierung entsprechen. Auch traditionelle soziale Großorganisationen wie die Wohlfahrtsverbände haben begonnen, nach guter – im Sinn von zukunftsfähiger und sozial verantwortlicher – Führung zu fragen, und entwickeln eigenständige Konzepte und Fortbildungsansätze, die der Natur sozialer Arbeit und ihrer besonderen Organisationsstruktur entsprechen.

Doch da sind auch die stets begrenzten Ressourcen gesellschaftlicher Arbeit, mit ihren knappen Budgets, ihrer Zeitnot und dem Fokus auf der Programmarbeit anstelle von Organisation und Team. Wie diese arbeiten, ist oft historisch gewachsen und selten bewusst gestaltet. Und so entsteht aus der Gestaltungschance, die in höherer Komplexität und starken Werten liegt, manchmal sogar eine Fessel, die Veränderung trotz erwachendem Gestaltungswillen schwer macht. Vor allem, wenn dann auch noch eine Pandemie anklopft.

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Die gesellschaftliche Krisenerfahrung lädt die Zivilgesellschaft ein, ihre sozialen Leistungen, ihre Innovationskraft, ihre systemischen Entwicklungsbedarfe und -chancen unter die Lupe zu nehmen. In unserem API-Report wirft Carolin Silbernagl zwei Schlaglichter auf die Lage und Entwicklung der deutschen Zivilgesellschaft in der Krise – und formuliert zwei Appelle in Richtung Weiterentwicklung. Den ganzen Bericht gibt’s hier zu lesen!

Dreifacher externer Veränderungsdruck

Die Corona-Krise bedeutete für viele soziale Organisationen ein nie gekanntes Maß an Veränderungsdruck. Dieser wurde vor allem in drei Feldern spürbar, mit gleichzeitiger und gleichermaßen hoher Dringlichkeit:

  1. Die Programmarbeit musste in Windeseile angepasst werden. Arbeit in sozialen Kontexten, von Bildung über Jugendhilfe bis zur Engagementberatung, passiert zum allergrößten Anteil in zwischenmenschlichem Kontakt. Oft braucht sie, um wirken zu können, eine besondere Qualität an Vertrautheit und Nähe. Es hieß also umplanen, zum einen um die finanzielle Handlungsfähigkeit zu sichern, vor allem aber, um die gesellschaftlichen Leistungen weiter erbringen zu können – und das ohne zu große qualitative Einbußen und im Kontext organisatorischer Unsicherheit.
  2. Zeitgleich kamen zusätzliche organisatorische Herausforderungen hinzu. Büros und Begegnungsstätten benötigten ein Hygienekonzept, ältere und vorerkrankte Menschen in den haupt- und ehrenamtlichen Teams brauchten besonderen Schutz. Wie damit umgehen, dass sich bei steigenden Infektionszahlen die ehrenamtlich besetzten Nachtschichten in der Drogenkontaktstelle kaum besetzen lassen? Wie die sprunghaft gewachsene Nachfrage beim Jugendhilfetelefon Nummer gegen Kummerauffangen? Wie in einer ehrenamtlich geführten Elterninitiativ-Kita den administrativen Aufwand schultern, den die umfangreiche Hygiene-Dokumentation und die ständig neuen rechtlichen Auflagen mit sich bringen?
  3. Nicht nur die Programmarbeit, auch die internen Prozesse erleben durch die Kontaktreduzierung einen tiefgreifenden Wandel und oft auch einen Digitalisierungsschub. Teams wandern teilweise oder ganz ins Home-Office, Kommunikation und Zusammenarbeit finden auf alternativen Wegen und oft im Schwerpunkt über digitale Tools statt. Informationen müssen neu fließen, Entscheidungen auf unbekannte Weise getroffen werden – ohne klassische Arbeitstreffen und Vieraugen-Gespräche oder bisher bedeutsame informelle Arenen wie Kaffeeküche und Feierabendbier. Führungskräfte, die ihren Teams gerne im Wortsinn ‘auf die Finger schauen’, sahen sich vor unbekannten Schwierigkeiten und ihre Routinen in Frage gestellt. Teams, die bisher auf engen persönlichen Austausch oder intensive Anleitung ‘von oben’ gebaut waren, brauchen neue Kompetenzen, um mit der Eigenverantwortung und der Gefahr der Vereinzelung im Home-Office gut zurecht zu kommen.

Viele dieser Schmerzen teilt die Zivilgesellschaft mit Startups und Großkonzernen gleichermaßen. Dennoch haben sie angesichts der Komplexität und Werteorientierung sozialer Organisationsführung auf der einen Seite und durch die finanziell engeren Schranken auf der anderen Seite eine eigene Qualität. Wo Teams immer durch Sinnstiftung und oft durch Freiwilligkeit zusammengehalten werden, muss sich Führung in der Krise anders beweisen. Und schließlich gibt es bei vielen sozialen Organisationen, die wichtige soziale Grundfunktionen erbringen, eine überdurchschnittliche menschliche Dringlichkeit, die inhaltlichen und organisatorischen Anpassungen zu schaffen.

Fünf Funktionen von gelingender Führung

In Zeiten von Veränderung und externem Druck erweist sich, wie belastbar die Führungssysteme in Organisationen ausgeprägt sind. Denn egal wie hierarchisch oder integriert, wie dezentral oder lose ein Kollektiv organisiert ist – gelingende Führung ist nötig, um Handlung zu koordinieren, Lösungsansätze vorzubereiten und Entscheidungen zu treffen. Von der streng-hierarchischen Befehlskette bis zur konsensorientierten Basisdemokratie gibt es zahllose, unterschiedlich ausgeprägte Führungsformen. Ob sie gut gelingen, lässt sich zum Beispiel abklopfen, indem man fünf wesentliche Leistungen in den Blick nimmt, die das gelebte Führungsmodell für die Organisation, ihre Mitglieder und deren Zusammenarbeit erbringen sollte:

1/ Orientierung
Führung ermöglicht einer Organisation, ihren Daseinszweck im Sinn einer Vision zu finden, daraus Handlungsrichtung abzuleiten und sie in Strategie und Zielen zu operationalisieren.

2/ Priorisierung, Auswahl und Konsequenzen
Führung setzt fest, was zu einem gegebenen Zeitpunkt wichtig ist: Worauf konzentriert sich das Team? Wofür werden die verfügbaren Ressourcen eingesetzt? Welche Auswirkungen sind zu erwarten? Wann und in welchem Ausmaß wird umgesteuert?

3/ Feedback und Weiterentwicklung
Führung ermöglicht es einem Team und seinen Mitgliedern, zu wachsen. Sie setzt einen Qualitätsrahmen, schätzt Ergebnisse ein, gibt persönliche Rückmeldung und entwickelt einen Kontext, in dem organisatorischer Output und persönliche Entfaltung sich positiv entwickeln.

4/ Konfliktlösung
In Kollektiven gibt es Interessenskonflikte – sei es zwischen konkurrierenden strategischen Zielsetzungen, zwischen Abteilungen oder Menschen im Team. Führung ermöglicht das Bearbeiten und Lösen von Konfliktkonstellationen; und das im besten Fall so, dass daraus ein gemeinsames Lernen entsteht.

5/ Sicherheit und Schutz
Organisationen sind gleichzeitig kontinuierlichem externem Druck und zahlreichen Unwägbarkeiten ausgesetzt. Auch wenn das individuelle Bedürfnis nach Sicherheit ganz unterschiedlich ausgeprägt ist, so braucht jede:r von uns eine Art Schutzschild vor diesen alltäglichen Stürmen, um konzentriert und entspannt arbeiten zu können. Nach innen geht es Gruppen ebenso: Um vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, Innovation zu gestalten, aus Fehlern zu lernen und Belastungen gemeinsam zu meistern, baut ein geteiltes Gefühl der Sicherheit das wesentliche Fundament. Führung hat also zur Aufgabe, in einem Kontext der Unsicherheit, die Stabilität und den Schutz zu organisieren, die das jeweilige Team und seine Mitglieder für gute Zusammenarbeit und Problemlösungsfähigkeit brauchen.

Man würde sich viel vergeben, würde man diese Führungsfunktionen eindimensional auf einzelne Personen – Führungskräfte – projizieren. In der Praxis ist Führung immer eine Gemeinschaftsleistung eines Teams. Auch in hierarchischen Managementstrukturen wird die Arbeit des Leitungsteams vom individuellen Einsatz und besonderen Team-Kompetenzen der Mitarbeiter:innen mitgetragen. In dezentralen Strukturen sind die Führungsfunktionen in kleinere Rollen geschnitten und auf nachvollziehbare Weise breiter im Team verteilt. In wieder anderen Kontexten wie Verbandsstrukturen gibt es zahlreiche locker verbundene Einheiten, die ihre Führung intern auf je eigene Art organisieren.

Zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen kennzeichnen sich durch eine bunte Vielfalt gelebter Führung. Diese ist abhängig von vielen Faktoren, wie organisatorischer Komplexität, Historie, Größe und Vorlieben der Engagierten und Teammitglieder. Es gibt das gut strukturierte Management-Team ebenso wie Jede:r-macht-alles-Lösungen, in denen diejenigen zupacken, die gerade Zeit haben und quasi-behördliche Strukturen, in denen Entscheidungen nach umfangreichen Regeln in komplexer Mitbestimmung vieler Zirkel getroffen werden.

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Jede Ausprägung hat ihre Berechtigung, wenn sie bewusst die Werte und Ziele der Organisation stärkt und den Menschen, die in ihr arbeiten, einen bestärkenden Rahmen baut. Ist das gelebte Führungsmodell dazu nicht in der Lage, treten seine Schwachstellen unter dem Druck einer Krisenzeit sichtbar zu Tage.

Zivilgesellschaftliche Führung unter dem Vorzeichen der Krise

Alle fünf Führungsfunktionen waren in den vergangenen Monaten mit großem Nachdruck gefragt. Hinsichtlich der Programmanpassungen und der damit verbundenen Stakeholder-Strategie brauchen Teams und Organisationen Orientierung genauso wie bei der generellen Neuverortung mit Blick auf ein neues gesellschaftliches Normal. Finanzieller Druck, neue Investitionsbedarfe, interne Umstrukturierung, Verschiebungen im Team und in den operativen Umsetzungsplänen verlangten nach Priorisierung, Auswahl und dem Abschätzen von Konsequenzen. Unter externem Druck steigt im Inneren der Organisation die Wahrscheinlichkeit von Konflikten, die Mediation und Lösung benötigen: die verfügbaren Ressourcen sind knapper, die Gefahr von Unsicherheit und Intransparenz steigt und Teammitglieder erleben die Situation als Belastung. Die erzwungenen Veränderungen in der Zusammenarbeit, vielerorts verbunden mit einem Wechsel ins Homeoffice und zur virtuellen Zusammenarbeit, machten intensiven Kontakt mit dem Team nötig, Feedback zum je individuellen Bewältigen der Situation und im besten Fall eine gemeinsame Weiterentwicklung der gemeinsamen Möglichkeiten und Kompetenzen. Aus all diesen Quellen zusammen erwächst in Krisensituationen ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz.

Hinzu kommt, dass mancherorts Teammitglieder in sozialen Organisationen und Initiativen um ihren Arbeitsplatz bangen, Sorgen um die eigene Gesundheit mit den Bedürfnissen der Zielgruppen abwägen und mit großen Veränderungen im Alltag der Zusammenarbeit und Abläufe umgehen. Dass im sozialen Sektor überdurchschnittlich viele Frauen arbeiten, die in ihren Familien tendenziell intensiver in der Doppelrolle von Beruf und Care-Arbeit eingebunden sind, bedeutet für Teams und Betroffene eine massive Einschränkung und Belastung durch fehlende Kinderbetreuung und Homeschooling. Es brauchte und braucht Zeit, Energie und Geschick, um vor diesem Hintergrund Organisation, Programmarbeit und Team zusammenzuhalten und zu stärken. Kein Wunder, dass diese mehrfachen zeitgleichen Anforderungen zur Belastungsprobe zivilgesellschaftlicher Führung werden. Es ist eine der wesentlichen Rückmeldungen aus den jüngsten Umfragen unter zivilgesellschaftlichen Organisationen:

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Die Krisenerfahrung der vergangenen Monate setzt gerade die handelnden Führungspersonen massiv unter Druck.

Im August 2020 berichteten 54% der Organisationen in der ZiviZ Corona-Befragung von einer Überforderung des Führungspersonals, umfassend oder zumindest in Teilen. Im weit umfassenderen Panel der November-Befragung bestätigten dann 72%, dass die Führungspersonen durch die Krise vor sehr hohen Anforderungen stehen.

Gelingende Führung ist in zivilgesellschaftlichen Organisationen also ebenso herausfordernd wie in allen anderen Organisationsformen. Sie trifft dazu oft auf höhere organisatorische Komplexität und in Krisensituationen auf besondere Dringlichkeit. Um mögliche Wege aufzutun, wie sie sich langfristig stärken kann, lohnt es, auf die sozialen Kernfunktionen zivilgesellschaftlicher Arbeit zurückzukommen. Welche Art von Führung brauchen gesellschaftliche Integrationsaufgaben, Innovationsleistungen, Konfliktbewältigung und Wärterfunktion?

Zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Engagierten zeichnet eine einzigartige Basisnähe aus: Sie erleben im Tun, was ihre Zielgruppen brauchen, wo Wirkungshebel liegen, wann Maßnahmen unerwarteten Schaden bewirken und was vor Ort wirklich nützt. Sie ist die wesentliche Grundlage des zivilgesellschaftlichen Beitrags in Krisenmomenten: Der Kontakt miteinander schafft Nähe, Verbundenheit und Verständnis, auf seiner Basis lassen sich Maßnahmen zur Nothilfe ebenso umsetzen wie innovative Lösungskonzepte entwickeln. Nicht zuletzt sichert er den Zugang zur Betroffenenperspektive und ihre Verteidigung im politischen Diskurs. Gute Antennen für diese Bedarfe sind also der Ausgangspunkt dafür, schnell und wirkungsvoll auf unerwartete Krisensituationen zu reagieren und passgenaue Angebote zu entwickeln. Im Tun kommen diese an, wenn zu den Antennen hohe organisatorische Lern- und Umsetzungsfähigkeit kommt. Beides können zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Führungsteams aktiv stärken.

Durch Transparenz Informationen ins Fließen bringen

Damit die Basiskompetenz zivilgesellschaftlicher Arbeit wirken kann, braucht es eine starke Verbindung von der Praxis der Programmarbeit, mit den Runden, die Entscheidungen treffen. Je besser Informationen in der Organisation fließen, je nachvollziehbarer ist, wo welche Kompetenzen und Einblicke liegen und wie und wann Entscheidungen getroffen werden, umso mehr kann eine Organisation als Netzwerk funktionieren, in dem Überblick und Ideen entstehen und Entscheidungen auf breite Kompetenz- und Informationsbasis aufbauen. Denn erst die Transparenz darüber, was wann und weshalb für die Organisation von Bedeutung ist, macht es den Teammitgliedern und Engagierten möglich einzuschätzen, welche ihrer zahlreichen Erfahrungen und Eindrücke an der Basis Relevanz haben, wo sie Räume für Austausch finden – und Kolleg:innen und Führungspersonen, mit denen die Praxiserfahrung mit strategischer Reflexion ins Sparring gehen kann.

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Digitale Technologien sind dabei eine wesentliche Unterstützung: Ein geteiltes Cloud-Storage kann dezentrale und zersplitterte Datenhaltung ablösen. Über kollaborative digitale Dokumente können mehr Menschen an der Entwicklung von Lösungen mitarbeiten. Professionelle Team-Chat-Lösungen machen es leichter, Informationen aus der Breite zu sammeln und in Kontakt zu bringen oder geteilte Kenntnis über aktuelle Entscheidungsthemen und wichtige Neuigkeiten zu schaffen.

Dass die Öffnung gelingt, liegt dabei wesentlich an der bewussten und konsequenten Gestaltung und Haltung des Führungsteams. Dabei hilft eine klare Entscheidung und offene Kommunikation darüber, welche Informationen ins Team geteilt werden und welche in kleineren Zirkeln bleiben. Noch bedeutsamer ist, im Weiteren auch dabei zu bleiben. Natürlich ist es oft einfacher, komplexe oder dringliche Themen in kleinen Kreisen zu behalten. Doch hält das Führungsteam die größere Offenheit nicht durch, bleibt im weiteren Team das Bild des großen Ganzen lückenhaft und es entstehen weniger Routinen rund um das Teilen von Informationen.

Durch Agilität Reaktionsfähigkeit und Lernen im Tun bestärken

Neben der Chance auf besseren Informationsfluss baut ein Mehr an Transparenz auch die Brücke in Richtung agiler Arbeitsweise. Agilität als Schlagwort ist allgegenwärtiger Begleiter in der Diskussion um eine moderne Arbeitswelt. Die begriffliche Grundbedeutung vermittelt, worum es im Kern geht: um Beweglichkeit im Tun angesichts von Arbeitskontexten, die stetig in Bewegung sind. Es lohnt aber, genauer in das Konzept des Agilen Arbeitens einzusteigen, um seinen Wert für das zivilgesellschaftliche Wirken nachzuvollziehen.

Seinen Ursprung hat die Agilität in der Softwareentwicklung. Hier entstand 2001 das “Agile Manifesto”, das sich gegen das noch bis heute vielerorts dominante Wasserfall-Management stemmt. In diesem wird eine Problemlage definiert, anschließend eine Lösung am Reißbrett entwickelt und diese dann nach vorab festgesetztem Maßnahmenplan in die Umsetzung geschickt. Doch gerade in der IT-Entwicklung ist besonders offensichtlich, dass sich das bessere Problemverständnis und die wirksameren Lösungswege erst während der Entwicklungsarbeit ergeben. Ist das Ziel der gemeinsamen Arbeit für alle Beteiligten greifbar, entsteht im Tun durch Lernschleifen eine umfassendere Informationslage und lernt ein Team, wie es am besten ineinander greift. Schritt für Schritt werden unerwartete Hürden sichtbar und Komplexität gemeistert. Nicht zuletzt verändert sich in unserer Welt, die ihrerseits in kontinuierlicher Bewegung ist, während der Umsetzungsarbeit der Kontext. Das angestrebte Ziel braucht vielleicht ganz andere Facetten, als in der Konzeptionsphase sinnvoll erschien.

In den vergangenen zwanzig Jahren haben sich Methoden und Arbeitsweisen entwickelt, die ermöglichen, die vier Werte und zwölf Prinzipien des Agilen Manifests in der Arbeitspraxis abzubilden. Allen voran Scrum, das über Zielorientierung, übersichtliche Zeitschritte und transparente Aufgabenverteilung Überblick in das “Gedränge” (so die Wortbedeutung) eines Projekts bringt. Dadurch bleiben die Ziele stets im Blick, Projektfortschritt und Teamleistung sind transparenter und ein Nach- und Umsteuern kontinuierlich möglich.

Ebenso bedeutsam wie die besseren Ergebnisse in der Problemlösung sind die positiven Effekte von agilem Arbeiten auf das Zusammenwirken und die Reaktionskompetenz in Teams.

Kommunikationsroutinen wie tägliche Kurzmeetings und kontinuierliche Fortschrittdokumentation verbreiten Informationen, regelmäßige Reflexionsrunden wie die Retrospektive halten das Ziel im Blick und arbeiten aktiv an einer guten Zusammenarbeit. Projektleitende lösen sich von der Kernaufgabe ‘Auftrag und Kontrolle’ und übernehmen die Rolle, das Projekt für das Team bearbeitbar zu machen. Mit all dem etablieren agile Methoden eine Kultur des Lernens in der Organisation. “Hat das gut funktioniert?” und “Wie können wir es noch besser machen?” sind in agilen Kontexten kein kritisches Infragestellen, sondern konstruktiver Standard. Die Vorteile einer solchen Arbeitsweise sind offensichtlich. Zahllose Großprojekte sind am Wasserfall-Management gescheitert, in der IT wie in allen anderen Branchen. Je stärker der Projektkontext in Bewegung ist, je undurchsichtiger die Informationslage, je komplexer die Zusammenhänge, umso weniger funktioniert die Trennung von Planung und Umsetzung, umso wichtiger wird das kontinuierliche Lernen und stetige Umplanen am Tun.

Zivilgesellschaftliche Arbeit ist besonders mit den Herausforderungen konfrontiert, die ein neues Akronym VUKA nennt. VUKA, das steht für volatil, ungewiss, komplex, ambivalent. Es wird genutzt, um Handlungsräume zu beschreiben, die sich der Planbarkeit entziehen und gleichzeitig dringlich Gestaltung einfordern. In gesellschaftlichen Zusammenhängen ist nur schwer vorhersehbar, wie sich Interventionen auswirken und welcher Weg zum Ziel führt. In einer Krisensituation wie der Corona-Pandemie verstärken sich die VUKA-Elemente ebenso wie der Zeitdruck. Agilität in den Organisationsabläufen kann auf diese externen Faktoren reagieren, während Kulturen und Prozesse, die in Plänen und Anweisungen gebunden sind, erstarren. Dabei kommt das Korsett oft von außen, auch wenn sich über Ansätze des Wirkungsmonitorings, im Bereich der sozialen Innovation und des Sozialunternehmertums einiges bewegt:

Das dominante Projektförderwesen basiert auf Plan-Controlling und macht es agilen Arbeitsweisen schwierig, im sozialen Sektor in der Breite Fuß zu fassen. Es wäre an der Zeit, die schädlichen Effekte dieser Praxis auf gesellschaftliche Wirkung zivilgesellschaftlicher Arbeit wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Fördermittelempfänger können kompetent und nachdrücklich für die Projektsteuerung über Ziele und agile Arbeitsweise als Grundlage für Wirkungserfolg gegenüber ihren Geldgebern einstehen. Dafür wiederum sind Scrum-Weiterbildungen im Führungskreis und Team ganz bestimmt ein guter erster Schritt.

Führungsrollen Raum geben, Führungskompetenzen stärken

Es ist schon angeklungen: Krisenfeste Führung kann nicht die alleinige Aufgabe einer alles erfassenden, Zusammenhalt stiftenden Führungsperson mit messerscharfem Verstand, Entschlussfreude und nie enden wollenden Energiereserven sein. Ein Glückwunsch an alle Teams, die eine solche bei sich haben. Aber auch sie kann nur schaffen, was ihre Zeit und Energie erlaubt und baut dabei auf kollegiales Miteinander, dem Anpacken-Wollen und Anpacken-Können von allen Beteiligten. Führungspersonen sozialer Organisationen arbeiten schon jenseits der Krise unter großem Druck.

Strategische Positionen sind im deutschen sozialen Sektor aus strukturellen Gründen deutlich unterfinanziert, die emotionale Komplexität von Führung ist in sozialen deutlich höher als in wirtschaftlichen Kontexten, ebenso wie die Bereitschaft, für die Zielgruppen und den Wirkungszweck über die eigenen Belastungsgrenzen zu gehen.

Es verwundert nicht, dass über die Hälfte von 200 befragten Führungspersonen britischer Charities sich mittel- bis langfristig als Burnout-gefährdet einschätzen. Entsteht nun durch eine Krise verstärkter Bedarf, können Führungsteams an ihre Grenzen stoßen. Die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, je knapper schon vor der Krise die personellen Ressourcen waren und je stärker die Vielzahl von Führungsaufgaben auf wenige Schultern konzentriert ist. Ehrenamtliche Führungsteams, wie sie in Vereins- oder Stiftungsvorständen häufig vorhanden sind, sehen sich mit einer ungeplanten Vielzahl an organisatorisch dringlichen und rechtlich bindenden Herausforderungen konfrontiert, deren Herr zu werden eine höhere Priorität besitzt, als Mitglieder mitzunehmen oder emotionale Stabilität in einem verstreuten Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen zu schaffen. Hauptamtliche Führungskräfte mit starker operativer Einbindung stehen vor der persönlichen Zerreißprobe zwischen Programmarbeit und einem Berg an Führungsaufgaben, die auch jeweils in Vollzeit kaum zu stemmen wären.

Zivilgesellschaft kann nur zur gesellschaftlichen Krisenbewältigung beitragen, neue Lösungsansätze entwickeln, Raum für gesellschaftliche Solidarität bauen und für Demokratie und Betroffene einstehen, wenn ihre eigene organisatorische Gesundheit unter dem externen Druck nicht implodiert.

Der wichtigste Schritt dabei liegt im Anerkennen von Führung als wichtiger Grundlage der Zusammenarbeit und als Aufgabe, die Raum und Ressourcen braucht. Soziale Organisationen tun sich oft schwer mit dem Besprechen von Macht und Hierarchie – das Miteinander hat Vorrang, der Finanzierungsschwerpunkt auf die soziale Leistungserbringung trägt dazu bei. Organisationen, die sich erst einmal lösen von der Frage lösen, wer führt, und für sich klären, welche Führungsaufgaben nötig sind, und wie diese am besten verteilt und gelebt werden, haben in Krisen einen entscheidenden Vorteil: ihr Führungsmodell ist besprechbar und verabredet. Steigt der Druck, lassen sich Elemente anpassen. Entstehen Lücken, kann das angesprochen werden. In der Organisation steigt das Verständnis, wieso die Geschäftsführerin gerade weniger Projektleiterin sein kann. Im Führungsteam kann eine größere Klarheit entstehen, wo und wie sich strategische Aufgaben so gestalten lassen, dass sie auch Team und Engagierte in die Mitwirkung holen.

Es wäre allerdings zu kurz gefasst, ginge man davon aus, mit gemeinschaftlicher Organisationsentwicklung, neuen Rollen und Prozessen sei es getan. “Jede maßgebliche Veränderung in der Außenwelt (braucht) eine entsprechende Veränderung im Innenleben der einzelnen Menschen. Wenn Unternehmen den Spielraum für Individuen vergrößern – ihnen mehr Freiraum und Verantwortung geben –, bedarf es eines Kompetenzaufbaus, einer menschlichen Reifung, im Zuge derer Mitarbeiter innerlich stärker und selbstbewusster werden,” schreiben Joana Breidenbach und Bettina Rollow in ihrem Buch “New Work needs Inner Work”. Corona hat deutlich gemacht, dass schon eine Veränderung wie der Umzug ins Homeoffice Teams erschüttern, Arbeitsabläufe stören und das organisatorische Gleichgewicht durcheinander bringen kann.

Es ist ein gemeinsamer Entwicklungsweg hin zu einem Führungsmodell, das in Krisenphasen belastbar und beweglich ist, ohne die Menschen, die die Führung tragen, durch Überlastung zu verletzen. Teams und Führungspersonen können unter ‘normalen’ Umständen den Selbstkontakt und die Selbstmanagementfähigkeiten aller Teammitglieder stärken, so dass sie unter Druck weniger Anleitung und Stabilität ‘von oben’ brauchen. Die Interaktionskompetenz und Konfliktfähigkeit des Teams lässt sich üben, damit das Team auch unter Druck ineinander greift, und nicht jede Störung zur Lösung auf dem Tisch der Vorgesetzten landet.

Denn: Soll Führung in der Krise gelingen, braucht es nicht nur starke Chef:innen. Es braucht starke Teams.

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